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Morphologie: Kein fundamentaler Bestandteil von Sprache  
  Der Mensch ist ein kommunikatives Wesen - und hat es dementsprechend im Laufe seiner Geschichte auf knapp 6.000 Sprachen gebracht. Für deren wissenschaftliche Untersuchung ist die Disziplin der Linguistik zuständig. Diese kennt als Teilgebiet auch die Morphologie, die sich mit den bedeutungstragenden Elementen von Sprache beschäftigt. Britische Wissenschaftler haben nun untersucht, ob sich morphologische Strukturen auch in der Gehirnaktivität von Probanden nachweisen lassen - das Ergebnis war negativ.  
"Ist Morphologie ein fundamentaler Bestandteil von Sprache?", lautet der Titel der Studie von Joseph Devlin und Kollegen von der University of Oxford.

Dieser Frage haben sich die Forscher mit Hilfe der funktionellen Kernspinresonanz (fMRI) angenommen, die Einblicke in das Gehirn von Probanden ermöglichte, während diese unterschiedliche "linguistische" Tests absolvierten.
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Die Studie von Devlin und Kollegen erscheint unter dem Titel "Is morphology a fundamental component of language?" zwischen 30. August und 3. September 2004 als Online-Vorabpublikation in der "PNAS Early Edition".
->   "PNAS Early Edition"
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Kleinste Bedeutung tragende Elemente
Sprache ist weitaus komplexer, als sich ihre Nutzer in der Regel bewusst sind. Dementsprechend komplex ist auch die Sprachwissenschaft oder Linguistik, die sich mit unterschiedlichsten Aspekten von Sprache(n) befasst.

Dazu gehört auch die Morphologie, die sich unter anderem mit so genannten Morphemen auseinander setzt.

Zu diesen "kleinsten Bedeutung tragenden Elemente einer Sprache" gehören im Deutschen etwa selbstständige Wörter wie "Haus" oder "der", aber auch so genannte gebundene Morpheme wie "-keit". Ein Beispiel: Aus dem Adjektiv "heiter" wird das Substantiv "Heiter-keit".
->   Informationen zu Morphemen (wikipedia.org)
Was genau sind Morpheme?
Über die genaue Definition von Morphemen herrscht in der Linguistik allerdings keine Einigkeit, wie Joseph Devlin und Kollegen in ihrem Artikel rekapitulieren. Doch überwiegend werde angenommen, dass die morphologische Struktur eine "spezielle Art von linguistischem Wissen" darstelle.
Regelmäßigkeiten zwischen Form und Bedeutung
Im Gegensatz dazu stehen demnach neuere Ansätze: Sie gehen davon aus, dass die Morphologie keine grundlegende Eigenschaft von Sprache ist, sondern ganz einfach aus systematischen Regelmäßigkeiten zwischen Form und Bedeutung von Worten entsteht.

"Damit wäre "-or" ein klassisches Morphem, denn es liefert ähnliche phonologische, orthografische und semantische Beiträge zu einer Reihe von verbundenen Wörtern", schreiben die Wissenschaftler - und liefern "editor", "sailor" und "defector" als Beispiel.

Mithilfe von "-or" wird hier aus Verben ein Substantiv, das auf Personen angewandt wird. Aus "segeln" wird der "Segler", aus "herausgeben" und "überlaufen" der "Herausgeber" und der "Überläufer".
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Ausnahmen und graduelle Unterschiede
Dabei gibt es durchaus auch Ausnahmen bzw. graduelle Unterschiede im Zusammenhang von Form und Bedeutung, wie die Autoren klar stellen. Sie verweisen auf den "Verräter" (traitor) kontra "Anker" (anchor).
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Gehirnaktivität und Reaktionszeit im Test
Im Detail untersuchten die Wissenschaftler nun die Gehirnaktivität und Reaktionszeit von insgesamt 12 britischen Testpersonen mit Englisch als Muttersprache. Diese wurden mit verschiedensten Wortpaaren konfrontiert.

Darunter fanden sich etwa "corner" (Ecke) und "corn" (Mais) als in der Form ähnlich, in der Bedeutung aber ohne Zusammenhang, "idea" und "notion" (beides steht für "Ansicht", "Idee" oder "Auffassung") als bedeutungsähnliches Begriffspaar in unterschiedlicher Form sowie "boldly" und "bold" ("dreist" oder "verwegen" - einmal als Adjektiv, einmal als Adverb gebraucht) als bedeutungs- und formverwandt.
Sinnlose Buchstabenreihe oder Wort?
Im Test wurden den Probanden nun auf einem Bildschirm nacheinander verschiedene Buchstabenfolgen gezeigt. Sie mussten in möglichst kurzer Zeit mit einem Knopfdruck reagieren - und damit die Buchstabenfolgen als "sinnlos" bzw. als "Wort" identifizieren.

Ihnen wurde erklärt, dass jeweils vor der entscheidenden Buchstabenreihe für eine minimale Zeitspanne ein bedeutungsloser Satz an Symbolen erscheinen würde - in Wahrheit jedoch handelte es sich um den ersten Teil der Begriffspaare.

Teil eins leuchtete jedoch für so kurze Zeit auf dem Bildschirm auf, dass es den Probanden - wie zuvor in anderen Tests untersucht - nicht möglich war, die Worte bewusst wahrzunehmen.
Semantik und Orthografie im Gehirn
Die Ergebnisse der Studie: Handelte es sich um Wortpaare mit ähnlicher Form, so reagierten die Probanden signifikant schneller, als ohne Zusammenhang in der Schreibweise. Weder für Bedeutungsähnlichkeiten alleine, noch für eine Verbindung von Bedeutung und Form ließen sich hingegen signifikante Werte feststellen.

Die Aufnahmen der Gehirnaktivität wiederum enthüllten diverse Areale, die während der Tests aktiviert wurden. Und hier zeigte sich nun, dass alle Regionen, die durch morphologisch verbundene Worte aktiviert wurden, mit jenen für Semantik und Orthografie fast völlig übereinstimmten.
Keine eigene Kategorie im "internen Wörterbuch"
Zwar seien weitere Studien notwendig, lautet denn auch die Schlussfolgerung der Forscher, doch deute ihre Untersuchung darauf hin, dass die Morphologie tatsächlich aus der Konvergenz von Form und Bedeutung resultiert.

Mit anderen Worten: Zumindest im "internen Wörterbuch" finden morphologische Strukturen nicht als eigene Kategorie ihren Niederschlag. Die Morphologie mag für die Linguistik ein wichtiges Forschungsfeld sein, im Gehirn aber ist sie nicht als unabhängige Ebene der Sprache repräsentiert.
Gleiche Ergebnisse für andere Sprachen?
Wohlgemerkt gilt dies vorerst nur für die englische Sprache, auf die sich die vorliegende Untersuchung gestützt hat. Die Autoren weisen etwa darauf hin, dass Türkisch oder Hebräisch über eine sehr viel reichhaltigere morphologische Struktur verfügen.
->   Vorlesung zur Morphologie (Humboldt Universität Berlin)
->   Department of Clinical Neurology der University of Oxford
->   Homepage von Joseph Devlin
Mehr zu diesen Themen in science.ORF.at:
->   Leben ohne Zahlen: Wie Sprache das Denken formt (20.8.04)
->   Die Zukunft der Sprachen (26.2.04)
->   Europas "Ursprache" entstand in Anatolien (26.11.03)
->   Sprunghafte Entstehung der Sprache? (24.1.03)
 
 
 
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01.01.2010