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Unwirkliche Wirklichkeit: Die unbewussten Annahmen des Gehirns  
  Wie wir die Welt um uns wahrnehmen, ist nicht nur von den konkreten Sinneseindrücken abhängig: Unser Gehirn nutzt auch eine Menge unbewusster Vermutungen über die Beschaffenheit der Welt "da draußen". Ein Beispiel ist etwa die Annahme, dass Licht immer von oben kommt. Ein deutsch-britisches Forscherteam konnte nun zeigen, dass diese Hypothese nicht genetisch fixiert ist, sondern durch Erfahrung moduliert werden kann.  
Wie Marc Ernst vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen mit Kollegen von der University of Southampton berichtet, nahmen Personen, die spezielle Versuchseinheiten absolviert hatten, die Welt auf eine "ver-rückte" Art und Weise wahr.

Interpretation der Forscher: Ein Schulbeispiel für die extrem gute Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns.
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Die Studie "Experience can change the 'light-from-above' prior" von Wendy J Adams, et al. erschien am 7. September 2004 auf der Website der Fachzeitschrift "Nature Neuroscience" (doi:10.1038/Nn1312).
->   Abstract der Studie in "Nature Neuroscience"
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Wahrnehmung = Sinnesinformation + Vorwissen
Unsere Wahrnehmung wird durch Informationen bestimmt, die von den verschiedenen Sinnesorganen, wie Auge, Nase oder Haut, geliefert werden. Darüber hinaus spielt dabei auch das Vorwissen (von Vorannahmen) über unsere Umwelt eine Rolle.
Nicht eindeutige Informationen
 
Bild: Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik

Dieses Zusammenspiel zwischen momentaner Sinnesinformation einerseits und Vorwissen andererseits lässt sich an Beispielen eindrucksvoll zeigen (siehe Abbildung oben).

So ist für die meisten Betrachter auf dem linken Teilbild dieser Abbildung ein Krater (Loch) zu sehen. Hingegen wird das rechte Teilbild zumeist als Hügel (Beule) wahrgenommen. Beide Interpretationen sind jedoch nicht eindeutig.

Das merkt man sofort, wenn man das Bild auf den Kopf dreht - nun sollte sich die Interpretation der Bilder umkehren. Tatsächlich handelt es sich nämlich bei den beiden Abbildungen um exakt das gleiche Bild, nur dass die rechte Version um 180 Grad gedreht ist.
Das Gehirn stellt Hypothesen auf
Wie kommt es zu dieser doppeldeutigen Interpretation? Um das Bild zu interpretieren, stellt das Gehirn Vorannahmen darüber an, aus welcher Richtung das Licht einfällt.

Da das Licht in unserer Welt meistens von oben kommt (Sonne, Deckenbeleuchtung, etc.), ist es für das Gehirn vernünftig, dieses Vorwissen bei der Interpretation der Bilder zu benutzen.

Unter dieser Vorannahme - "das Licht kommt von oben" - ist es die einzige "richtige" Interpretation, das linke Teilbild als Krater zu sehen und das rechte als Hügel.

Würde unser Gehirn jedoch die Vorannahme machen, das Licht käme von unten, so drehte sich die Interpretation exakt um - das linke Teilbild würde dann als Hügel und das rechte als Krater gesehen, jedoch dann nicht am Boden, sondern an der Decke.
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Mathematischer Hintergrund: Bedingte Wahrscheinlichkeit
Mathematisch lässt sich dieses Zusammenspiel zwischen Sinnesinformation und Vorwissen sehr gut mit der von Bischof Thomas Bayes 1763 entwickelten Wahrscheinlichkeitstheorie beschreiben, in der das Vorwissen mit Hilfe von "Priors", der "a-priori Wahrscheinlichkeitsverteilung", beschrieben wird. In dem illustrierten Beispiel gäbe es also einen Prior für "Licht von oben".
->   Mehr zum Bayes-Theorem (Wikipedia)
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Sind Vorannahmen der Wahrnehmung angeboren?
Marc Ernst ist nun zusammen mit seinen Kollegen Wendy Adams und Erich Graf der Frage nachgegangen, wie das Gehirn zu solchen Vorannahmen kommt:

Sind diese angeboren und somit genetisch bestimmt oder lassen sich solche fundamentalen Priors, wie die "Licht von oben"-Annahme, aus der Häufigkeit des Auftretens erlernen?
Dazu benutzten die Forscher ähnlich doppeldeutige Stimuli wie jene in obiger Abbildung und untersuchten die Wahrnehmung von Versuchspersonen jeweils vor und nach einem interaktiven Training.
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Versuch: Optische und haptische Stimuli kombiniert
Bei diesem Training konnten die Versuchspersonen die Stimuli nicht nur sehen, sondern auch für ca. 1,5 Stunden mit ihren Fingern abtasten. Der Trick dabei war nun, dass während des Trainings das visuelle Bild und damit der Bereich des Lichteinfalls, bei dem sich die Objekte als Hügel anfühlen, um 30 Grad gedreht wurde.

Dadurch stimmte der gefühlte Eindruck nicht immer mit der visuellen Wahrnehmung überein und einige der Objekte, die vor dem Training als Hügel gesehen wurden, fühlten sich nun wie ein Loch an und umgekehrt.
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Lichteinfall und Helligkeit durch Training veränderbar
Das Ergebnis dieser Experimente war, dass sich tatsächlich aufgrund dieses interaktiven Trainings die Wahrnehmung der Probanten veränderte - einige der "Krater" wurden plötzlich als "Hügel" gesehen.

Wie die Forscher ermittelten, war die "Licht von oben"-Annahme durch das Training um durchschnittlich ca. 11 Grad gedreht. Da normalerweise auch die scheinbare Helligkeit eines Objekts von seiner Orientierung zum Lichteinfall abhängt, sollte eine generelle Änderung der "Licht von oben"-Annahme auch die Wahrnehmung der Helligkeit von Objekten verändern.

Tatsächlich zeigte sich, dass den Probanden Objekte nach dem Training unterschiedlich hell erschienen - in Übereinstimmung mit der Änderung der angenommenen Lichteinfallsrichtung.
Wahrnehmungs-Hypothesen nicht angeboren
Die Forscher gelang damit der Nachweis, dass selbst solche fundamentalen Vorannahmen, wie die "Licht von oben"-Annahme, nicht genetisch verankert sind, sondern ständig auf der Basis der statistischen Regelmäßigkeit, mit der sie in der Umgebung auftreten, innerhalb relativ kurzer Zeit erlernt und angepasst werden.

Das steht jedoch im Gegensatz zu Versuchen, die mit anderen Spezies, wie z.B. Hühnern, durchgeführt wurden, die ebenfalls eine "Licht von oben"-Annahme machen, die aber bei diesen Tieren genetisch verankert zu sein scheint.

Insgesamt unterstreichen diese Ergebnisse die extrem gute Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns und dass sich die Wahrnehmung je nach individueller Lerngeschichte und Vorwissen von Mensch zu Mensch unterscheidet.
->   Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
->   University of Southampton
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Studie: Wie individuell sieht der Mensch die Welt? (12.3.04)
->   Hirnforscher: Auch Sehen will gelernt sein (17.2.04)
->   Das subjektive Reich der Sinne (9.2.04)
->   Erfahrung verändert Wahrnehmung von Emotionen (18.6.04)
->   Das Stichwort Wahrnehmung im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010