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Neues Bild der Evolution: Der Ring des Lebens  
  In der Biologie stellt man Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Arten gerne durch Stammbäume dar. Doch dieses Bild ist offenbar nicht immer zutreffend. Untersucht man die "Wurzeln" des Lebensbaumes mit den gängigen taxonomischen Methoden, erhält man äußerst widersprüchliche Ergebnisse. Zwei US-Forscher fanden nun heraus, warum das so ist: In den Urzeiten der Evolution existierte kein Baum, sondern vielmehr einen Ring des Lebens.  
Wie Maria C. Rivera und James Clark von der University of California anhand einer Genomanalyse belegen konnten, gingen die Zellen mit einem echten Zellkern, die etwa auch den Körper des Menschen aufbauen, aus der Fusion zweier völlig unterschiedlichen Zelltypen hervor.

Diese Erkenntnis bedarf eines generellen Umdenkens in der Evolutionsforschung, nicht zuletzt bei ihrer bildlichen Darstellung.
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Die Studie "The ring of life provides evidence for a genome fusion origin of eukaryotes" von Maria C. Rivera und James A. Lake erschien im Fachjournal "Nature" (Band 431, S. 152-5, Ausgabe vom 9.9.04).
->   Nature
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Eine Abbildung macht Geschichte
 
Bild: Uni Wien

In Charles Darwins Werk "On the Origin of Species" wurde bekanntlich die These des Artenwandels und deren Erklärung - die Theorie von Variation und Selektion - in das wissenschaftliche Weltbild eingeführt.

Der Inhalt des knapp 700 Seiten starken Buches erschließt sich vor allem über den Text, Abbildungen gibt es darin keine. Bis auf eine Ausnahme: Auf Seite 165 (der deutschen Übersetzung) findet sich eine Grafik, die den Artenwandel schematisch festhält:

Stammbäume wie dieser wurden zwar schon zuvor - etwa in der Linguistik - verwendet, Darwins Darstellung war jedoch die erste, die eine evolutionäre Lesart nahelegte.
->   The Origin of Species online (Uni Wien)
Ernst Haeckel: Abstammung als Baum
 
Bild: Uni Bielefeld

Diese Form der Darstellung begründete eine Tradition, Evolutionismus und das Denken in Stammbäumen waren seitdem nicht mehr zu trennen.

So hat etwa Ernst Haeckel, einer der streitbarsten Vertreter der Darwinschen Lehre im deutschsprachigen Raum, in seiner "Generellen Morphologie" aus dem Jahr 1866 die ersten Versuche unternommen, die Verwandtschaftsbeziehungen der Organismen im Detail bildlich darzustellen. Das gewählte Sujet: natürlich ein Baum.
->   Lexikalisches zu Ernst Haeckel bei Wikipedia
Drei Großreiche des Lebens
 
Bild: Christian de Duve Institute of Cellular Pathology

Aktuelle taxonomische Forschungen auf genetischer Basis revidieren zwar das eine oder andere Ergebnis von Haeckel, das Darstellungsprinzip hat sich jedoch erhalten: Das Lebensreich wird auch heute noch durch sich verästelnde Verwandtschaftslinien, an deren Ende die heute lebenden Arten stehen, abgebildet.

Betrachtet man die Angelegenheit im großen Maßstab, dann kann man drei Großgruppen unterscheiden: Zum einen die Lebewesen, die Zellen mit einem echten Zellkern besitzen, zu dieser Gruppe gehören u.a. alle Pilze, Pflanzen, Tiere und somit auch der Mensch.

Die anderen beiden Fraktionen bilden die Eu- und Archaebakterien, die eine ganz andersartige zelluläre Architektur aufweisen.
->   Mehr zu den Großreichen des Lebens (biologie.de)
Widersprüche an der Basis
Soweit ist die Verschränkung zwischen der These des Artenwandels und dem Stammbaumdenken als echte Erfolgsstory zu bezeichnen, nichts desto trotz stoßen die Taxonomen mit ihrem gegenwärtigen Methodeninventar auch auf Probleme:

Unscharf wird das Bild nämlich dann, wenn man den Ursprung des großen Baumstammes, d.h. die Anfänge der Evolution untersucht. So ergaben Sequenzvergleiche von ribosomalen Genen, dass die Eukaryonten mit den Archaea näher verwandt sind als mit den Eubakterien.

Andere - etwa an Proteinen durchgeführte - Studien ergaben, dass die Eubakterien die Schwesterngruppe der Zellen mit echtem Kern darstellen, also das genau Gegenteil. Wie also nun?
Neuer Algorithmus spürt genetische Fusionen auf
Maria C. Rivera und James Clark geben in ihrer aktuellen Publikation eine Erklärung für solche offensichtlichen Widersprüche zur Hand.

Sie untersuchten mittels eines neuen computerbasierten taxonomischen Verfahrens - "conditioned reconstruction" genannt - das komplette Erbgut von zwölf Stellvertretern der drei Großgruppen des Lebensreiches. Damit lassen sich Überlappungen im Genom aufspüren, die auf Verschmelzungen genetischer Sequenzen zurückgehen.
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Das Verfahren wurde am 22.1.2004 im Rahmen der Studie "Deriving the Genomic Tree of Life in the Presence of Horizontal Gene Transfer: Conditioned Reconstruction" vorgstellt. Erschienen in: "Molecular Biology and Evoution" (Band 21, S. 681-690; DOI: 10.1093/molbev/msh061).
->   Zum Original-Abstract
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Die Wurzeln sind ringförmig
Bild: Rivera & Lake/Nature
Die beiden US-amerikanischen Molekularbiologen errechneten anhand der genetischen Daten einige mögliche Stammbäume ohne Ursprung, die relativ geringe Wahrscheinlichkeiten aufwiesen.

Die höchsten Wahrscheinlichkeitswerte ergaben sich dann, wenn man die Enden der Stammbäume aneinanderfügte, d.h., wenn die Verwandtschaftslinien zu einem Ring geschlossen wurden (Bild rechts).

In biologischen Begriffen bedeutet das: Die Eukaryonten sind anscheinend ein Fusionsprodukt zweier völlig unterschiedlicher Organismen, nämlich Vorläufer der heutigen Eu- und Archaebakterien.
Erbgut der Eukaryonten durch Endosymbiose entstanden
Die beiden Autoren vermuten, dass die genetische Gestaltung der "modernen" Zellen auf die so genannte Endosymbiose zurückgeht.

Dabei handelt es sich gewissermaßen um ein evolutionäres Baukastenprinzip, bei dem vormals selbständig lebende Urzellen von anderen aufgenommen und zu symbiontischen Zell-Organen umfunktioniert wurden.

Allgemein anerkannt ist etwa die Tatsache, dass die Mitochondrien unserer Körperzellen in Urzeiten solch eine Einwanderung durchgemacht haben.
->   Mehr zur Endosymbiontentheorie bei Wikipedia
Widersprüche aufgeklärt
Mit dem von Rivera und Clark vorgestellten Konzept lässt sich überdies ein anderer Widerspruch ausräumen, den kürzlich durchgeführte Genom-Analysen zu Tage gefördert haben.

Eukaryontische Gene, die an informationsverarbeitenden Prozessen beteiligt sind (etwa Translation, Transkription u. dergl.) scheinen eine nahe Verwandtschaft zu Eubakterien aufzuweisen.

Erbfaktoren, die Stoffwechselvorgänge steuern, ähneln wiederum jenen von Archaebakterien. In das Bild vom Ring des Lebens fügen sich diese Befunde nun recht zwanglos ein.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   University of California, Los Angeles
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Bäckerhefe entstand aus einem "Super-Organismus" (9.3.04)
->   Verborgener Code: Wie die Evolution den Zufall bändigt (4.3.04)
->   An den Grenzen des Darwinismus (19.6.02)
 
 
 
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01.01.2010