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Wo der Traum wohnt  
  Für Sigmund Freud war der Traum der "Königsweg zum Unbewussten", mit dessen Hilfe er seine Psychoanalyse entwickelte. Für moderne Neurologen ist er noch immer ein Rätsel. Schweizer Mediziner sind den Geheimnissen des Traumes nun wieder ein Stück näher gekommen. Sie haben eine Gehirnregion ausfindig gemacht, die für seine Bildung entscheidend ist.  
Gestörtes Okzipitalhirn
Auch wenn Kollegen wie Marc Solms, führend im Bereich der neuropsychologischen Traumsforschung, eher von einem Zusammenspiel mehrerer Areale im Gehirn für das Zustandekommen des Traums ausgehen, wollen die Schweizer Neurologen nun ein besonders bedeutsames ausgemacht haben.

Das so genannte Okzipitalhirn einer Patientin war nach einem Schlaganfall gestört und hatte zu Traumausfällen geführt. Davon berichten die beiden Neurowissenschaftler Matthias Bischof und Claudio L. Bassetti, Leiter der Neurologischen Poliklinik der Universität Zürich, in den "Annals of Neurology".
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Die Studie "Total Dream Loss: A Distinct Neuropsychological Dysfunction after Bilateral PCA Stroke" ist in den "Annals of Neurology" online veröffentlicht worden (10. September 2004; DOI: 10.1002/ana.20246).
->   Original-Abstract in den "Annals of Neurology"
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Schlaganfall einer 73-jährigen Frau
Begonnen hat die Beobachtung mit dem Schlaganfall einer 73-jährigen Frau in einer vergleichsweise kleinen Region im hinteren Bereich des Gehirns: dem Okzipitalhirn. Bei diesen
"Okzipitallappen" handelt es sich um die kleinsten Großhirnlappen mit einem Sehzentrum und Zentren für das Festhalten von Erinnerungsbildern.

Die Frau verlor durch die Störung des Okzipitalhirns (und des rechten linguralen Gyrus) eine Reihe von Gehirnfunktionen, die meisten hatten dementsprechend mit der Verarbeitung visueller Information zu tun.
Sehverlust und keine Träume mehr
Nach kurzer Zeit waren diese Sehverluste wieder verschwunden, doch die Patientin zeigte ein neues Symptom: Sie träumte nicht mehr.

Genauer gesagt: In der dritten Nacht nach dem Schlaganfall berichtete sie noch einmal von einem vorerst letzten, sehr heftigen Traum - was Bischof und Bassetti mit einem plötzlichen Wiederfunktionieren der visuellen Fähigkeiten erklären.

Die Symptome der Patientin danach deckten sich mit Beobachtungen, die bereits 1883 erstmals beschrieben und später als "Charcot-Wilbrand-Syndrom" (CWS) bezeichnet wurden.
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"Charcot-Wilbrand-Syndrom"
Dieser Verlust der Traumfähigkeit in Verbindung mit Einschränkungen des Bildsinns ("visuelle Irremineszenz") firmiert heute unter dem Begriff "Charcot-Wilbrand-Syndrom" - benannt nach den Neurologen Hermann Wilbrand und Jean-Martin Charcot, die in den 1880er Jahren erstmals davon berichteten. Charcot gilt als bedeutendster Vorgänger von Sigmund Freud, Freud hat bei Charcot in Paris von dessen Hypnosestudien an hysterischen Patientinnen gelernt.
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Patientin träumte vorher normal ...
Die Patientin verfügte vor ihrem Schlaganfall über keine Besonderheiten im Traumverhalten: Nach eigenen Angaben träumte sie drei bis vier Mal pro Woche.

Über einen Zeitraum von sechs Wochen untersuchten Bischof und Bassetti die Gehirnwellen der Patientin während des nunmehr traumlosen Schlafs - ohne Anzeichen für eine Unterbrechung ihres normalen Schlafrhythmus.
... danach nur noch selten und weniger intensiv
Auch die REM-Phase des Schlafes - jene Phase mit der stärksten Traumaktivität - lief normal ab. Die Patientin wusste lange Zeit von keinem einzigen Traum mehr zu berichten, selbst wenn sie inmitten des REM-Schlafs aufgeweckt wurde.

Allerdings: Nach geraumer Zeit kehren einige der Traumfunktionen wieder zurück. Ein Jahr nach dem Schlaganfall hatte sie gelegentlich wieder Träume, durchschnittlich aber nur mehr einmal pro Woche. Zudem erlebte sie diese nicht mehr so lebendig und intensiv wie zuvor.
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Fünf Schlafstadien bilden Schlafzyklus
Nach den EEG-Signalen (Elektroenzephalographie) während des Schlafes lassen sich beim schlafenden Gehirn fünf verschiedene Aktivitätsformen feststellen, die sich in ihren Wellenmustern unterscheiden. Diese Muster entstehen durch das Pulsieren der Nervenzellen. Die "Schlafstadien" bilden einen "Zyklus", der sich beim Mensch vier oder fünf Mal pro Nacht wiederholt. Beim so genannten REM-Schlaf ("rapid eye movement") kommt es zum Großteil der Träume.
->   Mehr über den REM-Schlaf
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Zwei Schlüsse
Der Schluss der Forscher: Erstens könne das Charcot-Wilbrand Syndrom als genau bestimmte neuropsychologische Manifestation eines Schadens der Okzipitallappen beschrieben werden.

Und zweitens würden sich seine Symptome auch dann zeigen, wenn ansonsten überhaupt keine Abnormalitäten des Schlafzyklus auftreten.
Andere Forscher mit anderen Ergebnissen
Zu anders akzentuierten Ergebnissen kam in der Vergangenheit der Neuropsychologe und Psychoanalytiker Mark Solms von der Universität London. Er untersuchte die Auswirkungen bestimmte Gehirnverletzungen von mehr als 300 Patienten einerseits auf das Wachleben und anderseits auf das Traumleben und zog daraus Schlüsse auf Funktion und raum-zeitliches Zusammenspiel der betroffenen Regionen bei der Traumbildung.

Solms hob dabei Verletzungen in sechs Regionen hervor, die sich auf unterschiedliche Weise auf das Traumgeschehen auswirken.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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Veranstaltung: Der Traum in der Gehirnforschung
Mehr zu der Frage "Sind Träume Schäume? Der Traum in der Gehirnforschung" gibt es bei einer gleichnamigen Veranstaltung im Rahmen der Reihe "University meets public" in Wien (Vortragender: Alexander Hippmann, interdisziplinärer Traumforscher am Philosophieinstitut der Uni Wien).
Zeit: Dienstag, 7.12.2004, 18:30 Uhr
Ort: Volkshochschule Penzing
->   Mehr über die Veranstaltung
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->   Neurologische Klinik, Uni Zürich
->   The Whole Brain Atlas
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Klarträume: Esoterik oder Psychotherapie-Technik? (3.6.04)
->   Verdrängung erstmals neurobiologisch bewiesen (8.1.04)
->   Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften (9.8.02)
 
 
 
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01.01.2010