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Kinder als kreative Sprachdesigner  
  Kinder sind der Motor zur Weiterentwicklung jeder Sprache. Das schließen Wissenschaftler aus der Entstehungsweise einer nur 25 Jahre alten, einzigartigen Gebärdensprache in Nicaraguas Hauptstadt Managua. Hier haben taubstumme Kinder die Nicaragua-Zeichensprache (NSL) entwickelt - völlig unabhängig und ohne Anleitung von Erwachsenen. Über drei Generationen hinweg haben sich die anfänglichen Gesten zu einem komplexen linguistischen System verändert.  
Das berichtet ein internationales Forscherteam - darunter Asli Özyürek vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik - im Fachjournal "Science". Demnach formen junge Menschen eine Sprache ganz natürlich "durch die Art und Weise, wie sie sie erlernen".
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Die Studie von Ann Senghas, Sotaro Kita und Asli Özyürek ist unter dem Titel "Children Creating Core Properties of Language: Evidence from an Emerging Sign Language in Nicaragua" in "Science", Bd. 305, Seiten 1779-1782, Ausgabe vom 17. September 2004 (doi:10.1126/science.1100199) erschienen.
->   Die Studie in "Science" (kostenpflichtig)
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Eine "Antenne für Sprache"
Das Gehirn von Kindern habe eine natürliche Veranlagung, schwierige Vorgänge in Einzelteile zu zerlegen, sie zu strukturieren dann wieder zusammenzusetzen, schreibt das Team um Ann Senghas vom Barnard College der New Yorker Columbia Universität.

"Kinder haben von Anfang an eine Antenne (für Sprache). Sie nehmen überall sprachähnliche Informationen auf und verarbeiten diese in einer spezifischen Art. Um Kinder sprechen zu lehren, bedarf es nicht mehr Anleitung, als ihnen das Laufen beizubringen", glaubt Senghas.
Drei Generationen von NSL-Sprechern
Bild: Ann Senghas/Science
Ein Sprecher der Nicaraguan Sign Language.
An Taubstummen in Managua konnten die Wissenschaftler die Geschichte der Nicaraguan Sign Language, kurz NSL wie an einem aus Menschen gebildeten Zeitstrahl ablesen. Dazu verglichen sie die Gebärden, mit der sich frühere und heutige Absolventen der Schule verständigen.

Möglich wurde dies durch die besondere Situation: Denn aufgrund gesellschaftlicher Strukturen, fehlender Kliniken und Schulen hatten gehörlose Kinder und Erwachsene in Nicaragua bis vor 35 Jahren kaum Kontakt untereinander.

Erst ab 1977 änderte sich die Situation grundlegend - mit der Eröffnung der ersten Sonderschule in Managua, an der auch gehörlose Kinder aufgenommen wurden. In Folge begann die immer größer werdende Gehörlosengemeinschaft, eine eigene Gebärdensprache zu entwickeln. Mittlerweile gibt es drei Generationen gehörloser Sprecher der NSL - rund 800 Menschen im Alter von vier bis 45 Jahren.
Jüngere sprechen NSL flüssiger
Wie es in einer Aussendung des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen heißt, hatte man in früheren Studien bereits erste grammatikalische Änderungen der Sprache bei NSL-Sprechern im vorpubertären Alter beobachtet, die dann von nachfolgenden Generationen übernommen wurden.

Dadurch sei eine ungewöhnliche Sprachgemeinschaft entstanden, in der die jüngsten Sprecher die Sprache am flüssigsten sprechen. Ältere hingegen drücken sich in einer früheren, weniger entwickelten Form aus. Die Forscher konnten nun - dank der relativen Jugend der Sprache - die verschiedenen Stadien miteinander vergleichen.

Wie die Forscher in "Science" berichten, haben sich über drei Generationen hinweg die anfänglichen Gesten zu einem linguistischen System verändert. Aus einem zunächst ungeordneten entwickelte sich ein geordnetes Sprachsystem. Die Sprache sei im Verlauf von nur drei Jahrzehnten komplexer, differenzierter, schneller und flüssiger geworden.
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Gebärdensprachen weltweit unterschiedlich
Ganz ähnlich wie bei den gesprochenen Sprachen unterscheiden sich auch Gebärdensprachen in unterschiedlichen Ländern und Kulturen teils enorm. So beruht etwa das britische Alphabet auf der Verwendung beider Hände, während in den USA und Schweden meist eine Hand dafür ausreicht. Auch der Einfluss fremder Sprachen - etwa über Entwicklungshelfer oder Missionare - lässt sich beobachten. In Madagaskar beispielsweise verständigen sich einige Taubstumme mithilfe der Norwegischen Gebärdensprache, wie Michael Siegal von der University of Sheffield in einem Begleitartikel in "Science" (Bd. 305, Seiten 1720-1721, Ausgabe vom 17. September 2004) berichtet.
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Endliche Zahl von Elementen ...
NSL weist demnach heute zwei Eigenschaften auf, die grundsätzlich allen Sprachen gemein sind: Erstens besteht jede Sprache aus einer endlichen Anzahl von Elementen, die miteinander verknüpft werden.
... für unendliche Zahl von Äußerungen
Zweitens gibt es zwischen den einzelnen Elementen hierarchische Beziehungen, d.h. Gesetzmäßigkeiten, die unter anderem regeln, in welcher Reihenfolge diese Elemente angeordnet werden müssen. Diese Eigenschaften erlauben es, mit einem endlichen Repertoire an Elementen eine unendliche Anzahl komplexer Äußerungen zu erzeugen.
Beschreibung von Bewegungsablauf als Test
Die Forscher baten jeweils zehn Angehörige der drei Sprachgenerationen sowie eine Gruppe normal hörender Spanischsprecher, einen Zeichentrickfilm nachzuerzählen. In einer Szene verschluckte eine Katze einen Ball und rollte danach einen Hügel hinunter. Diesen Bewegungsablauf sollten die Probanden beschreiben.
Eine Geste kontra sequenzielle Dartstellung
 
Bild: Ann Senghas/Science

Die Spanisch sprechenden Probanden begleiteten ihre Erzählung häufig mit einer Geste, die sowohl Art (rollen) als auch Richtung (hinab) simultan ausdrückte, wie im Bild links zu erkennen ist. Die "bildhafte" Beschreibung drückte also beide Eigenschaften gleichzeitig aus.

Auch die Angehörigen der ältesten NSL-Generation verwendeten vor allem eine solche gestische - also ganzheitliche - Darstellung für diese Szene. Die beiden jüngeren Generationen hingegen bevorzugten eine sequenzielle Beschreibung, beschrieben also Art und Richtung mit separaten Gebärden (siehe die beiden Bilder rechts).

Mit anderen Worten: Die nachfolgenden Generationen hatten das sprachliche System nicht nur übernommen, sondern auch weiter entwickelt. Und zwar auf eine Weise, die den meisten gesprochenen Sprachen entspricht, die solche Abläufe ebenfalls separat und sequenziell ausdrücken - etwa im Deutschen durch die Worte "hinab" und "rollen".
Zwei wesentliche Lernstrategien
Damit zeigen sich nach Ansicht der Forscher zwei wesentliche Lernstrategien: Zum einen verfügen die Kinder offensichtlich über eine analytische Herangehensweise, die ihnen hilft, zuvor ganzheitliche Sachverhalte in ihre Einzelteile aufzubrechen.

Andererseits zeigt sich die Neigung, die einzelnen Elemente linear auszudrücken - auch wenn es ihnen möglich wäre, den Sachverhalt mit einer einzigen Geste darzustellen.
Die kombinatorische Stärke von Sprache
Auf den ersten Blick mag zwar die einzelne Geste ökonomischer erscheinen. Doch erst durch die lineare und separate Form der Darstellung gewinne eine Sprache ihre kombinatorische Stärke, die sie zu einem effizienten Kommunikationsmittel mache, heißt es in der Max-Planck-Aussendung.

Schließlich können beide Bestandteile auch einzeln oder in Kombination mit anderen Gebärden verwendet werden.
Klassische Frage: Henne oder Ei?
Die Wissenschaftler gehen aufgrund ihrer Ergebnisse davon aus, dass die natürliche Lernfähigkeiten von Kindern die Struktur einer Sprache elementar prägen. Ob damit auch die "ersten Sprachen" geformt wurden, oder ob diese die Lernmechanismen erst hervorbrachten - darüber kann derzeit nur spekuliert werden.

Laut ihrer Studie gehen die drei Forscher von einer Kombination beider Faktoren aus: Sobald die ersten Sprachen separate und hierarchische Strukturen aufwiesen, hatten Kinder mit analytischem und kombinatorischem Lernansatz einen deutlichen Vorteil beim Spracherwerb, meinen sie.

Auf diese Art könnten evolutionäre Notwendigkeiten kindliche Sprachlernstrategien hervorgebracht haben - andererseits hätten die einmal erworbenen Fähigkeiten auch die Struktur nachfolgender Sprachen beeinflusst.
->   Max-Planck-Institut für Psycholinguistik
->   Department of Psychology des Barnard College (Columbia University)
Mehr zum Thema Sprache in science.ORF.at:
->   Morphologie: Kein fundamentaler Bestandteil von Sprache (31.8.04)
->   Leben ohne Zahlen: Wie Sprache das Denken formt (20.8.04)
->   Die Zukunft der Sprachen (26.2.04)
->   Sprunghafte Entstehung der Sprache? (24.1.03)
 
 
 
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01.01.2010