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Flunkereien und großen Lügen - der Wille zum Schein  
  Die Lüge und ihre vielfältigen Erscheinungsformen prägen seit der Antike philosophische Fragestellungen und Debatten: Ist die Lüge moralisch vertretbar? Wann ist sie vielleicht sogar geboten? Oder etwa: Wo ist der Wille zur Täuschung stärker als der zur Wahrheit? Das 8. Philosophicum Lech begibt sich heuer in diese Tradition und thematisiert die unterschiedlichen Facetten der Lüge und des Scheins.  
Dabei ist die These vorangestellt, dass in der modernen Welt der Wille zum Schein eine akzeptierte soziale Technik ist. Diese wird in der Politik ebenso gern angewandt wie in den Medien, der Wissenschaft und der Kunst - oder auch im privaten Leben.
"Wir lügen alle! Ohne Ausnahme"
Entsprechend emphatisch fiel das Eröffnungsstatement des Philosophen und Leiters Konrad Paul Liessmann aus: "Wir lügen alle! Ohne Ausnahme. Lügen ist uns eine Lust und ein Bedürfnis".

Der Mensch lügt demnach nicht nur aus Not und Eigennutz, sondern aus der Freude an der Täuschung, der Verstellung, der Unwahrheit. Das habe bereits Friedrich Nietzsche gewusst, der sich lange vor Sigmund Freud mit der tiefenpsychologischen Bedeutung der Lüge beschäftigte.
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Der Wille zum Schein - Über Wahrheit und Lüge
Mit dem Titel des 8. Philosophicums wird bewusst auf die Nähe zu Nietzsche verwiesen. In den Nachgelassenen Fragmenten heißt es etwa: "Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, 'metaphysischer' als der Wille zur Wahrheit, zu Wirklichkeit, zum Sein: die Lust ist ursprünglicher als der Schmerz." Die Lüge wird so zu einer Frage des Überlebens, zumal der Mensch die schmerzhafte Realität, die geballte Wahrheit nicht zu ertragen imstande ist.
->   8. Philosophicum Lech
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Wieso überhaupt noch die Wahrheit sagen?
Und so drängt sich vor diesem Hintergrund vielmehr die Frage auf, wieso wir überhaupt noch die Wahrheit sagen. Liessmanns Antwort ist pragmatischer Natur: "weil es bequemer ist".

So müsse ein Lügner Kreativität, schauspielerische Fähigkeit und eine souveräne Kontrolle des Erinnerungsvermögens aufweisen, um jenen Widersprüchen zu entgehen, an denen schlechte Lügner rasch zu scheitern pflegen.
Lüge - Keine Frage der Moral
Jedenfalls sei nach Nietzsche die Lüge - von den kleinen Flunkereien des Alltags bis zu den großen Täuschungsmanövern der Geheimdienste und Politik - als anthropologische Voraussetzung kein Gegenstand der Moral, wie Liessmann betont.

Simone Dietz, Professorin für Philosophie an der Universität Düsseldorf, argumentiert in eine ähnliche Richtung: "Das Lügen ist nicht grundsätzlich schlecht, sondern moralisch eine neutrale Fähigkeit." Demnach kann die Lüge, wie viele andere Fähigkeiten, schlechten Absichten ebenso dienen wie in guter und gerechtfertigter Absicht stehen.
Wasser predigen, Wein trinken
Dennoch wird die Lüge als ein moralisches Thema in unserer Gesellschaft abgehandelt, was gewisse Ungereimtheiten mit sich bringt. Ähnlich dem sprichwörtlich gewordenen Wasser-und-Wein-Gleichnis kann dies an zwei Selbstverständlichkeiten des Alltags aufgezeigt werden.

"Erstens die Überzeugung, dass Lügen moralisch schlecht ist und wir daher nicht lügen sollen. Zweitens, dass wir häufig lügen, ohne es problematisch zu finden oder Gewissensbisse zu haben", erläutert Dietz.
Plädoyer für die Lüge
So verweist die Philosophin auf das alltägliche Lügen-Repertoire: Das Vorschützen eines Termins, um ein lästiges Gespräch zu beenden, die Übertreibung von Widrigkeiten, mit denen man Verspätungen entschuldigt oder das Vortäuschen von Unpässlichkeit, um eine Verpflichtung los zu werden.

Wie auch in anderen Zusammenhängen kommt es auf die Umstände an, in denen Lügen vorgebracht werden. So können sie einen Angriff auf persönliche Freiheit bedeuten oder aber diese verteidigen, ohne sich dabei in die Karten schauen zu lassen bzw. andere zu kränken.

"Wenn wir mit einer Lüge uns oder andere davor bewahren können, das Gesicht zu verlieren, sinnlos bloßgestellt zu werden und ähnliches, dann brauchen wir uns dieser Fähigkeit nicht zu schämen", so Dietz.
Rücksicht und Diskretion mit Vorbehalt
Gänzlich anders verhalte es sich mit Lügen, die zwar das Interesse an Diskretion persönlicher oder innerer Angelegenheiten plausibel machen, aber mit dem öffentlichen Interesse an Aufklärung kollidieren.

Demnach finde das Recht auf Schutz der Privatsphäre seine Grenze dort, wo gemeinsame Angelegenheiten mit anderen betroffen sind, so die Philosophin in Anspielung auf aktuelle, kirchenpolitische Geschehnisse in Österreich.
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Recht auf Aufklärungs- und Mitspracherecht
Simone Dietz konkret: "Wenn ein skandalbelasteter Bischof angeblich 'aus gesundheitlichen Gründen' von seinem Amt zurücktritt, weil sowohl er als auch die Institution, die er bis vor kurzem repräsentierte, in der Öffentlichkeit das Gesicht wahren möchten, bleibt zu fragen, ob das Recht auf Schutz der Persönlichkeit und der Institution hier stärker zu gewichten ist als das Aufklärungs- und Mitspracherecht der Kirchenmitglieder und der Öffentlichkeit."
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Allgemeines Lügenverbot nicht "durchsetzbar"
Nichts desto trotz, so das Fazit des Vortrags, gäbe es keine unbedingte Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit und keine Rechtfertigung eines allgemeinen Lügenverbots.

Vielmehr "wäre es erstrebenswert, den verlogenen Umgang mit der Lüge zu überwinden und anzuerkennen, dass "das Lügen in vielen Fällen eine unbedenkliche oder sogar segensreiche Technik ist", schließt Dietz ihre Ausführungen.
Agnieszka Dzierzbicka, science.ORF.at
->   Institut für Philosophie Universität Wien
->   Philosophisches Institut der Universität Düsseldorf
->   Mehr zum Philosophicum Lech in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010