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"Wissenschaft, die Grenzen schafft"  
  Zwar gibt es in den Industrienationen mittlerweile mehr Studentinnen als Studenten. In den Führungspositionen sind Frauen aber nach wie vor rar. In dem jüngst erschienenen Buch "Wissenschaft, die Grenzen schafft" wird der Frage nachgegangen, wie Betroffene diesen Übergang - von der weiblichen Mehrheit zur männlichen Dominanz - erleben. Das Ergebnis: In ihrer Selbstwahrnehmung ist Forscherinnen die Geschlechterdifferenz nur ein Faktor unter vielen - und die Unterschiede zwischen den Wissenschaftsdisziplinen sind mindestens ebenso entscheidend.  
52 Prozent Absolventinnen, sieben Prozent Professorinnen
In Österreich war es im Wintersemester 2000/01 so weit: Erstmals schlossen mehr Frauen als Männer ein Studium an einer Hochschule ab. Mittlerweile macht der Anteil der Absolventinnen schon knapp 52 Prozent aus.

Je höher aber die Karriereleiter an Österreichs Universitäten, umso dünner wird die Luft nach wie vor für Frauen. Laut Daten des Bildungsministeriums von 2002 lag der Frauenanteil unter den Uni-Assistenten bei knapp 26 Prozent, unter Professorinnen bei 6,8 Prozent.
Frauen-Anteil in technischen Fächern 15 Prozent
In jenen Wissenschaftsdisziplinen, die traditionell als "männlich" gelten, sind selbst die Absolventenzahlen noch stark geschlechtlich unterschieden. EU-weit gibt es bei naturwissenschaftlichen Studiengängen 41 Prozent Absolventinnen (in Österreich 39 Prozent), in den technischen Fächern 21 Prozent (in Österreich 15 Prozent).
Innenperspektive der Forscherinnen untersucht
Diese Daten sind so bekannt, wie die Sonntagsreden der Politiker (und Politikerinnen) häufig, die zur Änderung der dafür verantwortlichen Rahmenbedingungen aufrufen.

Dem jüngst erschienenen Buch "Wissenschaft, die Grenzen schafft" geht es nun nicht um diese Rahmenbedingungen - etwa die größeren familiären Belastungen oder das Fehlen sozialer Netzwerke von und für Frauen.

Die drei Soziologinnen Bettina Heintz, Martina Merz und Christina Schumacher untersuchen darin vielmehr das Wissenschaftsverständnis und die Karrierebedingungen aus der Perspektive der Betroffenen.
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Bettina Heintz, Martina Merz, Christina Schumacher: Wissenschaft, die Grenzen schafft. Geschlechterkonstellationen im disziplinären Vergleich, transcript-Verlag 2004, Euro 26,80.
->   Mehr über das Buch (transcript-Verlag)
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Beobachtung und Interviews
Dazu wählten sie vier Institute einer Schweizer Technischen Hochschule aus - Botanik, Pharmazie, Meteorologie und Architektur - und beschrieben in einem ersten Schritt soziale Praktiken durch "teilnehmende Beobachtung".

Danach führten sie mit 45 männlichen wie weiblichen Mittelbau-Vertretern dieser Institute berufsbiographische Interviews. Was im Jargon "soziologische Ethnographie" heißt, führt zu einer Reihe interessanter Ergebnisse - nicht zuletzt für die Autorinnen selbst.

Ihre ursprüngliche Forschungsthese, wonach sich das "cooling out" - also die Distanzierung und Entfremdung von der Wissenschaft als Beruf - mit dem Mittelbau beginne, ließ sich in dieser Einfachheit nämlich nicht verifizieren.
Geschlechterdifferenz nur ein Faktor
Geschlechtliche Differenzierung sei vielmehr "vielschichtig" und auch "teilweise uneindeutig", so die Autorinnen. Obwohl Frauen in den höheren Rängen des Wissenschaftssystems deutlich unterrepräsentiert sind, konnten auf der Ebene der Selbstdeutungen und -beschreibungen keine durchgängigen Geschlechterunterschiede festgestellt werden.

"Weiblich" oder "männlich" wird hier zu einem Faktor unter vielen, der zur wissenschaftlichen Identität beiträgt. Als mindestens ebenso wichtig stellen sich aber die Unterschiede zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen selbst heraus - und diese seien bisher von der Wissenschaftsforschung viel zu wenig beachtet worden, so Heinze und ihr Team.
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Beispiel Harvard
Dass sich die Setzung konkreter Rahmenbedingungen auf den Frauenanteil an Universitäten auswirkt, beweist ein Beispiel der ehrwürdigen Harvard University. Wie "Science" (Bd. 305, S. 1692) vor kurzem berichtete, fiel der Frauenanteil an "tenures" - befristete Arbeitsverhältnisse für qualifizierte Nachwuchswissenschaftler - an der Faculty of Arts and Sciences von 37 Prozent im Jahr 2001 auf unter 16 Prozent 2004. U.a. dafür verantwortlich wird die Absetzung eines Dekans gemacht, der für "affermative action", also die positive Diskriminierung bestimmter Gruppen, zuständig war.
->   Harvard Faculty Decry Widening Gender Gap ("Science", kostenpflichtig)
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"Vorbild Vater" bei Meteorologinnen
Was diese Schnittstellen von geschlechtsspezifischen und disziplinären Unterschieden betrifft, so liefern die Berufsbiographien eine Reihe von Beispielen. Die meisten Meteorologinnen etwa hatten ursprünglich Physik inskribiert. Als Ursache für diese Studienwahl verweisen sie oft auf ein "Vorbild Vater" oder das Motiv, "etwas für Frauen Untypisches machen zu wollen".
"Frauenberuf Pharmazeutin"
In der Pharmazie wiederum regiert die alte Gleichung "Apothekerin = Frauenberuf". Während männliche Vertreter eher die "interdisziplinäre Wissenschaft" als Grund für ihre Disziplinwahl angeben, gilt bei den befragten Frauen die Option der Teilzeitarbeit geradezu als Synonym für die Verträglichkeit von Beruf und Familie.
Innerdisziplinäres Paarungsverhalten ...
Bei den Architekten schließlich handle es sich um ein ganz eigenes Völkchen. Nicht nur dass sie sich signifikant häufiger untereinander paaren, herrscht bei ihnen auch das geschlechtsübergreifende Bemühen vor, konsistente Biographien zu liefern - rund um den hybriden Charakter der Architekten, der kreativ, intellektuell und praktisch zugleich sein soll.
... und charismatische Männer bei Architekten
Männer liefern hier die Erzählung der "charismatischen Figur", die schon als Kind zu Höherem (nämlich dem Architekten) berufen wurde. Frauen beziehen sich bei der Berufswahl auf den Reiz eines gewissen, gegenüber dem Elternhaus sich ausdrücklich absetzenden Milieus.

Schwierig speziell für Frauen gestalte sich der Übergang zum Beruf: die Welt am Bau ist Männer-dominiert, es gibt keine weiblichen Rolemodels. Die Arbeit in der Hochschule, die mit Kreativität und Selbstreflexion assoziiert wird, gilt hier im Vergleich schon wieder als "weiblich".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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01.01.2010