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Kunst der Lüge: Von enthemmten Dichtern und naiven Wissenschaftlern  
  Lüge und Täuschung mögen in bestimmten Situationen von Vorteil oder auch geboten sein. Für den Getäuschten jedoch bedeutet ihr Auffliegen stets den sinnbildlichen Schlag ins Gesicht. Es sei denn die Rede ist von Dichtung und Kunst. Hier ist das Spiel mit Lug und Trug erwünscht, die Illusion ein Muss. In der Wissenschaft hingegen findet dieselbe Praxis wenig Anklang: Wird man erwischt, so sind grobe Sanktionen augenblicklich die Folge.  
Die besondere Ambivalenz, die der Kunst der Lüge und Täuschung so eigen ist, aber auch ihr widerständiges Potenzial bildeten den Abschluss des heurigen Philosophicums Lech.
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Der Wille zum Schein - Über Wahrheit und Lüge
Unter dem Titel "Der Wille zum Schein - Über Wahrheit und Lüge" gingen beim 8. Philosophicum in Lech am Arlberg von 16. bis 19. September in- und ausländische Philosophen, Kulturwissenschaftler, Medientheoretiker und Pädagogen den Spuren der Lüge in der Gesellschaft nach.
->   8. Philosophicum Lech
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Dichter und Dichtung taugen nichts
"Die Dichter und die Dichtung taugen nichts", lautete die provokante, wenn auch mit Augenzwinkern vorgetragene These des Germanisten Jochen Hörisch aus Mannheim. Die hingebungsvolle Verehrung der moralischen Überlegenheit von Dichtern ist Hörisch dabei ein Dorn im Auge.

Denn diese resultiere nur allzu häufig aus einem falsch verstandenen Bildungsbürgertum. So mögen Dichter vieles sein, eine moralische Lebensführung, im Sinne der geltenden Normen, können sie freilich selten vorweisen. Müssen sie auch nicht.
Keine Verpflichtung zur Wahrheit
"Dichtung weiß, dass sie in einem bestimmten Sinn lügt", zeigte sich Hörisch versöhnlich. Denn die schöne Literatur sei wie kaum eine andere Schreibkunst frei von der Verpflichtung, Wahrheit zu schreiben. Sie unterliege anderen Leitcodes als Wissenschaft und Journalismus beispielsweise.
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Unterschiedliche Leitcodes
Demnach unterliegen Wissenschaft und Journalismus dem Leitcode wahr/falsch, die Literatur aber wird nur von einem Code geleitet. Dieser lautet stimmig/nicht stimmig. "Für ästhetische Reize sind poetische Texte bereit, wahre Aussagen bleiben zu lassen: a rose is a rose is a rose...", erläuterte der Germanist den Leitcode der Dichtung.
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Enthemmte Dichter reden überall drein
Dabei gab Jochen Hörisch zu bedenken, dass die Dichter seit 2.000 Jahren überall drein reden, von der Politik bis zur Lebensführung. Sie bilden Quasi-Urteilssätze ohne eben der Wahrheit verpflichtet zu sein: Aber gerade darin liegt nicht nur eine gewisse Unverfrorenheit, sondern auch ein widerständiges Potenzial der Lüge und Täuschung.

Denn Dichter können mittels des Mediums Sprache alternative, unwahrscheinliche Realitätsversionen in die öffentliche Debatte werfen. Hier zeichnete Hörisch das Bild des Dichters als einem "toll enthemmten Diskurspraktiker".

Und so lautete sein Plädoyer auch: "den Dichtern nicht zu glauben, sondern zu prüfen, ob die alternativen Realitätsversionen möglich wären". Denn ihre Lügen seien ein wunderbarer Anlass, die Welt auch anders zu denken.
Wissenschaft - die nachtragende Community
Weniger großzügig geht die Wissenschaft mit ihren Lügnern um. Wer erfolgreich über längere Zeit die Community zu täuschen wusste und erwischt wird, dem sind grobe Sanktionen sicher. Manchmal reicht auch bloß der Verdacht. Nachsicht ist in so einem Fall nicht zu erwarten.

Am Beispiel eines aufstrebenden Naturwissenschaftlers, der bereits im Alter von 32 Jahren als potenzieller Nobelpreisträger galt und fatalerweise über eine seiner Kurvendarstellungen stolperte, veranschaulichte die Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt aus Wien das Dilemma der Wissenschaft, wenn Täuschung ins Spiel kommt.
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"Nobelpreis-Anwärter als Fälscher entlarvt"
Über 90 Publikationen konnte der Physiker in nur drei Jahren vorweisen, (einige davon durchaus mit renommierten Fachkollegen), alle durchliefen das Begutachtungsverfahren. Eine Untersuchungskommission entschied im September 2002, dass bei 16 Publikationen wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt. Im Juni 2004 wurde schließlich die Aberkennung der Doktorwürde wegen Beschädigung der Glaubwürdigkeit von Wissenschaft in der Öffentlichkeit bekannt gegeben.
->   Fälschungsskandal: Physiker wird Titel aberkannt (11.6.04)
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Gemeinsam erfolgreich, einzeln versagen
Ist der Ruf einmal ruiniert, so kommen vier Säuberungsrituale ins Spiel, erläuterte Felt den Umgang in der Wissenschaft mit dem Problem Betrug: "Identifiziere wenige, wenn es geht nur einen Schuldigen". Im "Falle" des jungen Wissenschaftlers wurden alle Koautoren frei gesprochen.

Für das Fehlverhalten sei konkretes menschliches Versagen anzuführen, Systemprobleme nur, wenn unbedingt nötig.

Die Außergewöhnlichkeit des Falles hingegen sei zu betonen: "Keiner der Kollegen konnte die Versuche des jungen Wissenschaftlers wiederholen und trotzdem hielten alle still", kritisierte Felt den Druck des Wettbewerbs, der Zweifel und Überprüfbarkeit nicht mehr zulässt.
Zentrale Botschaft: Good Science wins
Schließlich der zentrale Teil des Säuberungsrituals wie Ulrike Felt betonte: "Versichere dem 'Publikum' glaubhaft, dass 'in the end the good Science wins'. Das heißt ernst zu nehmender Betrug wird ohnehin früher oder später aufgedeckt.

Offen bleibt für die Wissenschaftsforscherin noch die Frage, was mit den mehr als 70 "verlassenen" Publikationen des Wissenschaftlers, die der Überprüfung stand gehalten haben, nun geschehen solle: "Dürfen diese zitiert werden?"
Bildungslügen und notwendige Illusionen
Von einem großzügigen Umgang mit Lüge und Täuschung ist die Pädagogik als Wissenschaft und Praxis geradezu abhängig, wenn es nach Alfred Schirlbauer vom Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien geht.

Beispielhaft skizzierte Schirlbauer die zwei großen Lügen, die den pädagogischen Diskurs der letzten Jahrzehnte dominierten: Die Partnerschaftslüge in den 70ern und die Lüge von der Wissensexplosion in den 90ern mit ihrem Imperativ, das Lernen zu lernen.
Fragwürdige Gleichheit, berechtigte Täuschung
So enthalte die pädagogische Beziehung immer Machtelemente, die niemals eine gleichwertige Partnerschaft entstehen lassen können, genauso wie Lernen immer auch auf Inhalte angewiesen sei und sich ohne diese als ausschließliche Technik erschöpft, wie Schirlbauer seine Thesen erläuterte.

Nichts desto trotz komme solchen Lügen und Täuschungen eine Berechtigung zu. Denn abgesehen von der Notwendigkeit - in der täglichen Erziehungspraxis - sich an Illusionen klammern zu können, sind es gerade diese, die die Erziehungswirklichkeit verändern können und verändert haben.
Die "Entbarbarisierung" als Beispiel
Obgleich die Partnerschaftslüge bzw. die Demokratieillusion einigen Pädagogen das Leben in der konkreten Praxis durchaus schwer gemacht habe, wäre letztlich ohne sie keine Veränderung der etablierten Unterrichtsstile der 60er Jahre möglich geworden, betonte Schirlbauer.

"Wenn man bedenkt, dass in den Sechzigern noch ziemlich bedenkenlos gestraft, eingesperrt und geohrfeigt wurde, kann man den pädagogischen Partnerschaftsdiskurs durchhaus als einen Beitrag zur 'Entbarbarisierung' betrachten", lautete Schirlbauers Schlussplädoyer für die Notwendigkeit von Illusionen - selbst wenn diese bereits entzaubert sind.

Agnieszka Dzierzbicka, science.ORF.at
->   Seminar für deutsche Philologie der Universität Mannheim
->   Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung der Universität Wien
->   Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien
->   Philosophicum Lech 2004: Der Wille zum Schein (18.09.04)
->   Mehr zum Philosophicum Lech in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010