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Manifest: Was die Hirnforschung (nicht) wissen kann  
  Führende Hirnforscher haben ein Manifest veröffentlicht, in dem sie vor überzogenen Erwartungen gegenüber ihrer Disziplin warnen: Trotz aller Forschungserfolge der letzten Jahre seien bei den großen Problemen der Neurowissenschaften - etwa Bewusstsein, Ich-Erfahrung oder die "Sprache" von Nervenverbänden - keine endgültigen Antworten zu erwarten. Das Wissen über die Funktionsweise unseres Denkorgans werde zwar weiterhin zunehmen, zu einem Triumph des neuronalen Reduktionismus werde es aber nicht kommen.  
Die Verfasser der Erklärung widmen sich vor allem Grundsatzfragen: Was weiß man zum gegenwärtigen Zeitpunkt - und was wird in Zukunft möglich sein? Die Antworten fallen indes betont zurückhaltend aus. Neue Bescheidenheit im Lager der Hirnforscher?
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"Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung" erschien in der Zeitschrift "Gehirn und Geist" (Nr. 6/04, S.30-9).
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"Dem Gehirn die letzten Geheimnisse entreißen"
"Angesichts des enormen Aufschwungs der Hirnforschung in den vergangenen Jahren entsteht manchmal der Eindruck, unsere Wissenschaft stünde kurz davor, dem Gehirn seine letzten Geheimnisse zu entreißen", schreibt das Autorenkollektiv in seiner Grundsatzerklärung.

Wird das so sein? Werden die Neurowissenschaften demnächst die letzten verborgenen Ecken des menschlichen Denkens ausleuchten?
Drei Untersuchungsebenen
Drei Untersuchungsebenen gelte es zur Beantwortung dieser Frage zu unterscheiden, betonen die Wissenschaftler: Zum einen die Erforschung großer Hirnareale, die mit den stetig verbesserten bildgebenden Methoden zügig voranschreitet.

Zum anderen gebe es die zelluläre Untersuchungsebene, auf der man den molekularen Mechanismen der Gedächtnisbildung, des assoziativen Lernens u.v.m. erfolgreich auf die Spur gekommen ist.
Lücke: Wenig Wissen über Zellverbände
Doch zwischen diesen Ebenen klafft ein Loch, "eine Erkenntnislücke", wie die Autoren konstatieren: Über die Funktionsweise von Zellverbänden mittlerer Größe wisse man noch "erschreckend wenig".

Das Problem ist aber offenbar nicht, dass man die mittlere Dimension im Gehirn eher vernachlässigt hat (was vermutlich stimmt), das eigentliche Problem sitzt tiefer:

Unbekannt sind bis dato die semantischen Eigenschaften des Gehirns, also etwa die Frage, welche Codes Nervenzellen benutzen und wie Zellverbände miteinander kommunizieren.
"Auf dem Stand von Jägern und Sammlern"
Noch schwieriger wird die Angelegenheit, wenn man entlang der semantischen Leiter zu komplexen Leistungen wie dem inneren Erleben und der Handlungsplanung voranschreitet:

"Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern."
Grundlegende Erkenntnisse: Lernen bis ins Alter...
Gleichwohl kann man auch einiges auf der Haben-Seite des Wissens verbuchen: Das Autorenkollektiv, dem etwa der Bremer Neurobiologe und Konstruktivist Gerhard Roth und Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, angehören, stellt in seiner Bestandsaufnahme zwei grundlegende Erkenntnisse heraus.

Zum einen habe sich die alte Lehrmeinung, dass die Lernfähigkeit auf die Jugendzeit beschränkt sei, als zu strikt herausgestellt.

Die Plastizität des Gehirn ist größer als ursprünglich angenommen, daher "kann Hans also durchaus noch lernen, was Hänschen nicht gelernt hat - auch wenn es mit den Jahren deutlich schwerer fällt".
... keine Psyche ohne Physis
Zum zweiten brechen Roth, Singer und Co. eine Lanze für das - bis dato unwiderlegte - Postulat des Materialismus, demzufolge Denken niemals unabhängig von physiologischen Prozessen auftreten kann.

Das gelte etwa für "Imagination, Empathie, das Erleben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen".

Daraus folgt: "Geist und Bewusstsein - wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden - fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht."
Ignorabimus
Blick in die Zukunft: Was, wenn dereinst alle weißen Flecken auf der Landkarte des menschlichen Geistes entdeckt und alle Erkenntnislücken aufgefüllt sind - wird dann die Psyche durch objektivierbare Methoden entzaubert sein?

Nein, lautet die Antwort der Autoren, die "Innenperspektive" des denkenden Subjekts werde nichts von ihrer Eigenständigkeit einbüßen.

Denn: "Auch eine Fuge von Bach verliert nichts von ihrer Faszination, wenn man genau verstanden hat, wie sie aufgebaut ist. Die Hirnforschung wird klar unterscheiden müssen, was sie sagen kann und was außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegt, so wie die Musikwissenschaft - um bei diesem Beispiel zu bleiben - zu Bachs Fuge Einiges zu sagen hat, zur Erklärung ihrer einzigartigen Schönheit aber schweigen muss."

Robert Czepel, science.ORF.at, 19.10.04
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Literatur-Tipp
Grundlegende Fragen der Neurowissenschaft - wie etwa Bewusstsein, freier Wille, Verstand vs. Gefühle etc. - behandelt der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth in seinem letzten Buch "Aus Sicht des Gehirns". Die Diskussion der Themen findet auf relativ populärem Niveau statt, entfernt sich aber niemals vom soliden fachwissenschaftlichen Hintergrund. Das Buch erschien 2003 bei Suhrkamp, ISBN 3518583832, Euro 14,90
->   Suhrkamp
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01.01.2010