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Gehörlose Wunschkinder  
  Was für andere Eltern wie eine Hiobsbotschaft klingt, stellt für manche gehörlose Menschen die Erfüllung eines Traums dar: die Diagnose "taub" bei den eigenen Kindern. Sie hoffen auf die Erkenntnisse der Genetik, um sicher zu gehen, dass ihr Nachwuchs ebenso wie sie selbst in einer geräuschlosen Welt aufwächst. Bioethiker warnen vor "eugenischer Selektion" - wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen.  
Neues Selbstbewusstsein
Den Hintergrund der Diskussion bildet ein erstarktes Selbstbewusstsein der Gehörlosen-Bewegung: Ihre Mitglieder verstehen sich nicht mehr als Gruppe behinderter Menschen, sondern als kulturelle Minderheit.

Sie haben nicht das Gefühl, auf etwas zu verzichten, im Gegenteil: Durch den reichen Wortschatz der Gebärdensprache können sie sich ohne Einschränkungen untereinander verständigen. Ihr Leben sei anders, aber nicht weniger interessant und vielfältig als jenes ihrer hörenden Umgebung, so die Einstellung.
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Das britische Fachjournal "Nature" (Band 431, S.894-6, Ausgabe vom 21.10.04) widmet dem Thema "Deaf by Design" ein ausführliches "News Feature".
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Hoffnung Pränataldiagnostik
Manche taube Eltern fürchten, dass ihre Kinder, sollten sie doch hören können, an dieser anderen Welt nie teilnehmen werden können - ein großer Verlust in ihren Augen.

Die Schlussfolgerung: Sie lassen sich genetisch testen, wie wahrscheinlich ihre Gehörlosigkeit vererbbar ist. Und hoffen auf Pränataldiagnostik, um schon vor der Geburt über das Gehör des Fötus Bescheid zu wissen.

Die Diskussion um Gentests wird damit auf den Kopf gestellt: Bisher wurde befürchtet, dass sie der "Selektion" behinderter Kinder dienen würden. Nun taucht das Szenario auf, dass auch in Hinblick auf gezielte "Defekte", wie Gehörlosigkeit allgemein verstanden wird, aussortiert werden könnte.
Nachfrage vorhanden
Es passiere immer wieder, dass Paare nach der genetischen Testbarkeit von Gehörlosigkeit fragen, bestätigt Markus Hengstschläger gegenüber science.ORF.at. Er leitet das Labor für Pränataldiagnostik am Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Paaren mit Kinderwunsch Auskunft über mögliche Erbkrankheiten zu geben, gehört zu seinem Alltag.

Allerdings sei ihm noch nie aufgefallen, dass jemand wirklich auf die Taubheit des Kindes gehofft habe. Meistens werde eine Schätzung der Wahrscheinlichkeit gewünscht, wenn es Fälle von Gehörlosigkeit in der Familie gibt oder ein Partner taub ist.

Der österreichische Gehörlosenbund bestätigt, dass sich zwar viele gehörlose Menschen taube Kinder wünschen würden. Eine genetische Untersuchung käme für die große Mehrheit aber nicht in Frage.
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Gehörlosigkeit: Komplexes Phänomen
Bei Gehörlosigkeit muss unterschieden werden zwischen erworbener und genetisch bedingter Taubheit. Sehr oft gehe sie auf Krankheiten während der Schwangerschaft oder im Kindesalter zurück, erklärt Genetiker Hengstschläger. Es gibt aber auch die genetisch bedingte Gehörlosigkeit, wobei bis zu 40 verschiedene Anlagen als Auslöser in Frage kommen. Soll überprüft werden, wie wahrscheinlich Taubheit vererbt wird, müssten auch Stammbaum und Erbgang analysiert werden.
->   Mehr zur Gehörlosigkeit bei medicine worldwide
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Diagnose ethisch bedenklich
Hengstschlägers Labor lehnt es ab, die Wahrscheinlichkeit von Gehörlosigkeit zu untersuchen. Der Befund sei "klinisch nicht relevant", erklärt er. Die Vorstellung, dass ein taubes Paar ein hörendes Kind abtreiben würde, hält er für ethisch nicht vertretbar.

Auch Ulrich Körtner, Theologe und Mitglied der österreichischen Bioethikkommission, bezeichnet die Argumentation der Gehörlosenbewegung in den USA gegenüber science.ORF.at als "ethisch äußerst problematisch".
Eugenische Selektion
Zwar sei die Kritik an einem statischen Begriff von Behinderung richtig. Ein Kind allein wegen der Tatsache, dass es hört, abzulehnen, ist seines Erachtens aber nicht minder eine Form der eugenischen Selektion als die Selektion von Ungeborenen aufgrund einer "embryopathischen Indikation", also einer Abtreibung wegen einer festgestellten Behinderung des Embryos.

An dieser Stelle sind laut Körtner der "reproduktiven Autonomie" des Einzelnen Grenzen zu setzen.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 22.10.04
->   Abteilung für pränatale Diagnostik & Therapie, AKH Wien
->   Österreichischer Gehörlosenbund
->   Das Stichwort Gehörlosigkeit im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010