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Vioxx-Affäre: Grobe Mängel bei Medikamentenzulassung  
  Ende September 2004 hat der US-Pharmakonzern Merck, Sharp & Dohme (MSD) sein Arthrosemittel "Vioxx" wegen in einer Studie aufgetretenen vermehrten Herzinfarkten und Schlaganfällen vom Markt genommen. Immer wieder wurden danach Vorwürfe geäußert. Im angesehenen "New England Journal of Medicine" etwa griffen zwei US-Experten sowohl MSD als auch die US-Arzneimittelbehörde FDA massiv an.  
Die Zwischenfälle seien auch mit ähnlichen Medikamenten - so genannten selektiven COX-2-Inhibitoren - zu erwarten. Die Affäre weise überdies auf prinzipielle Mängel bei der Zulassung von Medikamenten hin, so die Mediziner.
Größte Rücknahmeaktion in Arzneimittelgeschichte
"Am 30. September 2004 - nachdem 80 Millionen Patienten dieses Medikament eingenommen und der Jahresumsatz 2,5 Mrd. US-Dollar (1,98 Mrd. Euro) erreicht hatte, zog Merck (Sharp & Dohme) das Mittel wegen eines erhöhten Risikos für Infarkt und Schlaganfall zurück."

"Das ist die bisher größte Markt-Rücknahme eines verschreibungspflichtigen Medikaments in der Geschichte. Hätte man die Warnzeichen entlang des Weges beachtet, hätte ein solches Debakel verhindert werden können", schreibt der in Fachkreisen weltbekannte US-Kardiologe Eric J. Topol (Cleveland Clinic).
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Der Artikel "Failing the Public Health - Rofecoxib, Merck, and the FDA" von Eric J. Topol erschien in "New England Journal of Medicine" (Band 351, S.1707-9, Ausgabe vom 21.10.04).
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Marktzulassung trotz unvollständiger Daten
Der Experte weiter: Keine der beiden großen Kräfte in dieser fünfeinhalb Jahre dauernden Affäre - weder Merck (Sharp & Dohme) noch die FDA - hätten ihre Verantwortlichkeiten gegenüber der Öffentlichkeit erfüllt.

Die US-Arzneimittelbehörde hätte "Vioxx" (Im Fachjargon auch "Rofecoxib" genannt) die Marktzulassung 1999 gegeben, wobei die Daten der Zulassungsstudie erst im November 2000 veröffentlicht wurden.

Die Informationen über die Effekte des Schmerz- und entzündungshemmenden Mittels seien unvollständig gewesen.
FDA hat Bedenken zwei Jahre zu spät geäußert
Topol: "Erst am 8. Februar 2001 kam das FDA-Beratungskomitee zusammen, um Bedenken wegen potenzieller Herz-Kreislauf-Risiken in Verbindung mit Rofecoxib zu diskutieren. Es bleibt unklar, warum die FDA zwei Jahre nach ihrem Verfahren und der Zulassung von Rofecoxib wartete, bis sie dieses Meeting einberief."
Keine Studie über Herzinfarkt-Risiken durchgeführt
Der Fachmann veröffentlichte zusammen mit Kollegen am 22. August 2001 eine Analyse der Daten über Rofecoxib und - was den MSD-Konkurrenten Pfizer mit seinem COX-2-Hemmer Celecoxib ("Celebrex") angeht - kam zu folgendem Resultat:

"Unsere primäre Schlussfolgerung, basierend auf einer klar vermehrten Anzahl von Herzinfarkten bei Rofecoxib und einer numerischen, aber nicht statistisch signifikant Erhöhung in Verbindung mit Celecoxib: 'Es ist zwingend erforderlich, dass eine Studie durchgeführt wird, welche ganz speziell die Wirkung dieser Substanzen auf der Herz-Kreislauf-System und ihre positiven Effekte untersucht'."

Doch das geschah nicht. Auch wenn viele Arthrose-Patienten wegen ihres Alters auch Herz-Kreislauf-Probleme haben und deshalb einem besonderem Risiko ausgesetzt sein könnten.
Vorwurf: Gegenkampagne des Herstellers
Topol: "Unglücklicherweise wurde eine solche Studie nie durchgeführt." In zahlreichen angesehenen Fachzeitschriften sei eine Gegenkampagne des Herstellers geführt worden.

Der Experte: "Nur durch Zufall (...) wurde entdeckt, dass 3,5 Prozent der Patienten, die Rofecoxib erhielten, einen Infarkt oder Schlaganfall erlitten, während es in der Placebo-Gruppe 1,9 Prozent (...) waren."

Mittlerweile hätte Merck, Sharp & Dohme in den USA pro Jahr 100 Millionen US-Dollar (79,3 Mill. Euro) allein für Konsumentenwerbung für sein Medikament ausgegeben. Pro Monat wurden in den USA mehr als zehn Millionen Rezepte auf das Arzneimittel ausgestellt.
Langes Abwarten kritisiert
In der selben Ausgabe des "New England Journal of Medicine" greift auch Garret A. FitzGerald (Universität von Pennsylvania) zu harten Worten, um das offenbar lange Abwarten der Verantwortlichen zu kritisieren:

"Wir haben jetzt klare Hinweise auf eine Erhöhung des Herz-Kreislauf-Risikos, das sich in völliger Übereinstimmung mit der Aufklärung seiner 'mechanistischen' Hintergründe herausgestellt hat, die alle Coxibe (selektive COX-2-Hemmer, Anm.) betrifft."
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Der Artikel "Coxibs and Cardiovascular Disease" erschien in "New England Journal of Medicine" (Band 351, S.1709-11, Ausgabe vom 21.10.04).
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Mängel im Zulassungsprozess
Der Experte weiter: "Die Rofecoxib-Story zeigt deutlich die Mängel in dem Prozess, der zu der Zulassung eines Medikaments führt. Die rationale Basis für die Beschäftigung mit den Herz-Kreislauf-Wirkungen dieser Arzneimittel sind seit fünf Jahren klar gewesen. Trotzdem wurden nicht einmal die fundamentalsten Fragen dazu gestellt."
Umsatz: Zehn Milliarden US-Dollar
Wie groß das Interesse der Hersteller an den Coxiben sein muss, geht allein aus folgender Zahl hervor, die der US-Experte anführt: Sie machten einen weltweiten Umsatz von rund zehn Milliarden US-Dollar (7,93 Mrd. Euro).
Mechanismus bereits 1999 geklärt?
FitzGerald und seine Mitarbeiter wollen jedenfalls schon 1999 den Mechanismus geklärt haben, über den die Coxibe offenbar zu mehr Infarkten und Schlaganfällen führen können:

"Zu selben Zeit, als 1999 Rofecoxib und Celecoxib zugelassen wurden, berichteten ich und meine Kollegen, dass beide Arzneimittel bei gesunden Probanden die Bildung von Prostaglandin I2 unterdrücken."
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Details zur schädlichen Wirkung
Prostaglandin I2 wird von den Endothelzellen, also der innersten Auskleidung der Blutgefäße, produziert und soll sie offenbar vor Stress schützen. Ursprünglich - so der Experte - nahm man an, dass dieses Hormon über die Vermittlung des "guten" Enzyms COX-1 entstehe. Das wird ja von den Medikamenten wesentlich weniger blockiert als das "böse" COX-2.

Doch diese Annahme stellt sich als falsch heraus. Das die Gefäßwände - in Herz und Kopf - schützende Prostaglandin I2 wird unter Mitwirkung des COX-2-Enzyms erzeugt. Und hier setzt genau die Wirkung von Rofecoxib & Co. ein.
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Kommerzielle statt medizinische Interessen
US-Kardiologe Eric J. Topol fordert jedenfalls Konsequenzen - in den USA:

"Ich glaube, dass es hier eine umfassende Untersuchung durch den Kongress geben sollte. Die führenden Manager von Merck (Sharp, Dohme, Anm.) und die Führung der FDA teilen sich die Verantwortung dafür, nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen zu haben und nicht zu erkennen, dass sie für die öffentliche Gesundheit verantwortlich sind."

"Traurigerweise ist es für mich klar, dass die kommerziellen Interessen von Merck (Sharp, Dohme, Anm.) mit seinen Rofecoxib-Verkäufen sein Interesse an den potenziell toxischen Effekten des Medikaments auf das Herz-Kreislauf-System übertrafen."

[science.ORF.at/APA, 25.10.04]
->   Merck zur Rücknahme von Vioxx
->   Informationen zu Vioxx bei der FDA
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01.01.2010