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Die Neurobiologie der Sucht - Verlangen statt Lust?  
  Neurobiologische Modelle der Sucht konzentrieren sich traditionell auf die Rolle des gehirninternen Belohungssystems, können aber die hohen Rückfallquoten nach Therapien nicht schlüssig erklären. Neuere Ansätze stellen daher das gesteigerte Verlangen nach süchtig machenden Substanzen oder Handlungen in den Mittelpunkt, wie der Wiener Psychologe Claus Lamm im Rahmen eines Gastbeitrags für die Reihe "University Meets Public" ausführt.  
Sucht als Normalfall?
Von Claus Lamm

Die Anzahl an Personen, deren Lebensqualität durch Sucht und Abhängigkeit reduziert ist, ist nach wie vor Besorgnis erregend hoch. "Volksdrogen" sind dabei nicht die illegalen Substanzen, sondern Alkohol und Nikotin.

So sind in Österreich geschätzte 330.000 Personen als alkoholkrank einzustufen, und bei 870.000 ÖsterreicherInnen wird von Alkohol-Missbrauch ausgegangen. Insgesamt weisen also derzeit an die 15 Prozent der ÖsterreicherInnen problematischen Alkoholkonsum auf.
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Zahlen und Fakten
Aktuelle Zahlen zum Thema "Alkohol in Österreich" gibt es auf der Website des Anton-Proksch-Instituts, internationale Daten zur Drogenproblematik finden sich im jährlichen Europäischen Drogenbericht der EMCDDA.
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Behandlung von Sucht
Sucht ist damit eine "Krankheit, die uns alle angeht". Und sie ist, wie der bekannte Spruch "Einmal süchtig - immer süchtig" zeigt, nur selten mit langfristigem Erfolg zu behandeln. Gravierendes Hindernis für eine erfolgreiche Behandlung süchtigen Verhaltens ist eine beträchtliche Rückfallsquote.

Diese ist beispielsweise bei der Nikotinsucht besonders hoch. Selbst Jahre der Abstinenz schützen hier nicht davor, doch wieder zum Glimmstängel zu greifen und das alte schädliche Konsumverhalten von neuem aufzunehmen.
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Im Rahmen der Vortragsreihe "University Meets Public" wird Claus Lamm am 27.10.2004 zu diesem Thema den Vortrag "Drogen, Sucht und das Gehirn" in der VHS Brigittenau halten.
Zeit: 18.00-19.30
->   University Meets Public
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Sucht und Belohnung
Für die Therapie von Sucht und Abhängigkeit ist die Kenntnis der neurobiologischen Grundlagen für die Entstehung und Aufrechterhaltung des Suchtverhaltens hilfreich.

Bisher gingen die gängigen neurobiologischen Modelle der Sucht davon aus, dass die Einnahme einer Droge zu Aktivität in jenen Gehirnregionen führt, die ansonsten auch in die Empfindung von Lust und Belohnung involviert sind - wie z.B. dem sogenannten mesolimbischen Dopaminsystem.

Es sei daher die dem Organismus signalisierte Belohnung bzw. der Lustgewinn, der den Reiz einer Droge oder eines Suchtverhaltens (wie z.B. Spielsucht oder Internetsucht) ausmache.
Ein neurobiologischer Teufelskreis
Durch den wiederholten Konsum der Substanz passen sich nun die Nervenzellen an die Droge an - indem sie z.B. die Anzahl der beteiligten Nervenverbindungen erhöhen oder reduzieren.

Folgen davon sind Toleranzbildung und körperliche Entzugserscheinungen. Toleranzbildung führt dazu, dass von der Droge immer größere Mengen eingenommen werden müssen, um den gleichen Effekt zu erzielen.

Entzugserscheinungen wiederum treten dann auf, wenn die Substanz nicht mehr in ausreichender Menge im Körper vorhanden ist. Wird die Substanz nun wieder zugeführt, so verschwinden die Entzugserscheinungen.

Dadurch entsteht nach diesem Erklärungsmodell ein Teufelskreis: gesteigerter toleranzbedingter Substanzkonsum führt zu erhöhten Entzugserscheinungen, welche durch vermehrte Drogeneinnahme eliminiert werden.
Verführerische Erwartung statt Wiederholungslust
Dieses Modell der Suchtentstehung weist allerdings einige Schwächen auf. So kann es die hohe Rückfallsquote nach Suchttherapien nur schwer erklären - zumal die körperlichen Entzugserscheinungen üblicherweise nach einigen Tagen bis Wochen verschwinden und auch medikamentös meist sehr gut überwunden werden können.

Ein neuerer Ansatz, der die Entstehung von Sucht eher auf gesteigertes Verlangen denn auf einen gesteigerten Lustgewinn zurückführt, liefert da eine möglicherweise stimmigere Erklärung.

Ausgangspunkt für diesen Erklärungsansatz ist die Beobachtung, dass der mit dem Konsum einer Droge verbundene Lustgewinn mit der Zeit abnimmt - während im Gegensatz dazu die Beschäftigung mit der Droge und das Verlangen danach immer stärker wird.
Die Anreiz-Sensitivierungs-Hypothese
Die von den beiden Biopsychologen Berridge und Robinson 1993 erstmals vorgeschlagene und mittlerweile tierexperimentell erprobte "Anreiz-Sensitivierungs-Hypothese" geht von folgenden Faktoren aus:

Der Konsum einer süchtig machenden Substanz führt zu langanhaltenden Änderungen in Schaltkreisen des Gehirns, die Verlangen (und eben nicht Belohnung oder Lust) signalisieren.

Diese Veränderungen führen zu einer Übersensibilisierung gegenüber sogenannten Auslöserreizen. Damit sind Reize gemeint, die mit dem süchtigen Verhalten unmittelbar verknüpft sind - also z.B. das Stammlokal der/s Alkoholkranken, der zur Zigarettenpause konsumierte Kaffee, aber auch der Computerbildschirm für Internetsüchtige.
->   Website von Berridges Arbeitsgruppe (Univ. of Michigan)
Suchtverhalten trotz Lusteinbuße
Diese Auslöserreize lösen schließlich Aktivität in jenen Gehirnregionen aus, die zusätzlich das süchtige Verlangen wecken und damit zu einem entsprechenden Konsum-Wunsch führen.

Dies kann sich bis zu unbändigem Verlangen (sogenanntem Craving) steigern - also dazu, dass trotz nur noch geringem oder gar nicht mehr vorhandenem Lustgewinn das Suchtverhalten fortgesetzt wird.
Schlussfolgerungen für Therapie und Behandlung
Aus den Hypothesen von Berridge und Robinson lassen sich folgende Schlussfolgerungen ableiten: "Einmal süchtig - immer süchtig" scheint eine konkrete Entsprechung in unserem Nervensystem zu haben - denn die angesprochene Übersensibilisierung bleibt nach den Ergebnissen von Berridge und Robinson sehr lange Zeit bestehen.

Positiv nützen lässt sich hingegen die Erkenntnis, dass durch Vermeidung der Auslöserreize die Entstehung und Verstärkung des Verlangens vermieden werden kann.

Für den/die RaucherIn könnte dies etwa bedeuten, Kaffee-Pausen mit rauchenden KollegInnen zu meiden, für Heroinabhängige, die Szeneplätze nicht mehr aufzusuchen.

Schließlich stimmt die Anreiz-Sensitivierungs-Hypothese auch dahin gehend optimistisch, dass mit diesem Wissen in der psychotherapeutischen Behandlung individuelle Maßnahmen und Methoden entwickelt werden können, mit dem eigenen Verlangen besser umzugehen.

[25.10.04]
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Biographie von Claus Lamm
Geboren am 10.12.1973, 2001 Promotion als Dr. rer.nat. (Psychologie). Universitätsassistent an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien, Arbeitsbereich Biologische Psychologie, Lehrbeauftragter der Universität Wien, der Webster University Vienna, der Fachhochschule Eisenstadt, sowie der Universität Klagenfurt; Forschungsschwerpunkte: Kognitive Neurowissenschaften, funktionelle Bildgebung höherer kognitiver Prozesse und sozialer Interaktion; Mitarbeiter des Projektes ChEckit!
->   Persönliche Homepage
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01.01.2010