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Wege zur Toleranz - 300. Todestag von John Locke  
  John Locke gilt als einer der bedeutendsten Philosophen der neuzeitlichen europäischen Kulturgeschichte. Sein Ziel war der aufgeklärte, selbstbewusste Mensch, der sich vom Joch des Absolutismus befreit. Am 28. Oktober jährt sich der Todestag des englischen Philosophen zum dreihundertsten Mal.  
Neben seinen umfassenden Schriften zur Erkenntnistheorie schrieb Locke auch über Rechts-und Staatswissenschaften, Ökonomie, Theologie, Mathematik, Medizin und Pädagogik. Er war allerdings nicht nur Philosoph, sondern auch Arzt und hochrangiger Politiker, der sich als "Menschenfreund" verstand.
Der Geist ist ein unbeschriebenes Blatt
Locke steht für die philosophische Tradition des Empirismus, die die Sinnestätigkeit der Menschen in den Mittelpunkt rückt: "Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war", so lautet die zentrale These Lockes, mit der er die Anhänger des Rationalismus verschreckte und zahlreiche Ideen der Aufklärung vorwegnahm.

Auch Lockes zweite wichtige These war gegen die Anhänger des Rationalismus gerichtet. Sie lehnte die von René Descartes vertretene Ansicht ab, dass der menschliche Geist bereits von gewissen Strukturen vorgeformt sei.

Locke spricht hingegen von einer tabula rasa, von einer leeren Tafel des menschlichen Geistes, die es zu füllen gelte.
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Sendungshinweis
Anlässlich des 300. Todestages von John Locke sendet Ö1 in "Dimensionen - Die Welt der Wissenschaft" ein ausführliches Portrait des englischen Philosophen.
Sendungstermin: Ö1, 28. Oktober 2004, 19:05 Uhr
->   Mehr dazu bei oe1.ORF.at
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Biografie: Studium und Politik...
Bild: Alamo Community College
Geboren wurde John Locke am 29. August 1632 in der englischen Grafschaft Somerset. Locke studierte Metaphysik, Logik, Chemie und Medizin in Oxford und lehrte nach dem Studienabschluss als Dozent für Rhetorik und Philosophie.

1667 trat er in die Dienste des Earl of Shaftesbury; vorerst als Hausarzt und Erzieher. Diese Entscheidung veränderte Lockes Leben grundlegend, da Shaftesbury zum Lordkanzler ernannt wurde und Locke durch dessen Einfluss hohe Sekretärsposten in den staatlichen Einrichtungen erhielt.

Locke befand sich im Zentrum der Macht, deren Vor- und Nachteile er im Lauf seines weiteren Lebens kennen lernte.
...Flucht und Revolution
Durch einen Regierungsumschwung wurde er gezwungen, 1683 in die Niederlande zu fliehen, wo er bis 1689 blieb. Erst die Glorreiche Revolution, die Wilhelm von Oranien auslöste, ermöglichte ihm die Rückkehr nach London.

Ihm wurden nun wieder hohe politische Ämter angeboten: Locke zog es jedoch vor, sich zurückzuziehen und sich seinen wissenschaftlichen Arbeiten bis zu seinem Tod am 28. Oktober 1704 zu widmen.
->   Biografische Details bei der Stanford Encyclopedia of Philosophy
Wege zur Toleranz
Diese dramatischen Ereignisse hatten auch tief greifende Folgen für die Entwicklung der politischen Theorie Lockes, die in seinen Ausführungen über die Toleranz ihren Höhepunkt erreichte.

Erstaunlicherweise schlug Locke in seinem "Brief über die Toleranz" vor, Katholiken und Atheisten nicht tolerant zu behandeln. Das klingt paradox, ist aber vom historischen Kontext her zu verstehen.

Es bestand damals die Gefahr, dass ein katholisch gesinnter König die Religionsfreiheit aufheben könnte und den Katholizismus als Staatsdoktrin verordnen würde.
Folgerungen: Wider jeden religiösen Fanatismus
Lockes "Brief über die Toleranz" ist höchst aktuell: Was geschieht, wenn die Gefahr droht, dass eine religiöse Gruppe - wie in diesem Fall die Katholiken in England - den religiösen Alleinvertretungsanspruch anmeldet?

Oder wenn im Namen der Religion auf das Grausamste gefoltert und gemordet wird? Soll man die Haltung der Toleranz ausüben, wenn man es mit einer Gruppe von absolut Intoleranten zu tun hat?

Locke bestreitet, dass man sich im Besitz einer wahren Religion wähnen kann und bekämpft - ähnlich wie Immanuel Kant in seiner Religionsphilosophie - jeden religiösen Fanatismus. Sind die Vertreter des Fundamentalismus aber unbelehrbar, meint Locke, sollte der Staat eingreifen, um die Toleranz zu verteidigen.
Besitzindividualismus
Neben seinen Ausführungen zur Toleranz befasste sich Locke ausführlich mit gesellschaftspolitischen Problemen. Er dachte - speziell in seiner Schrift "Zwei Abhandlungen über die Regierung" - darüber nach, welche Stellung dem bürgerlichen Subjekt in einer liberalen Gesellschaft zukommt.

Dabei spielt der Begriff des "Besitzindividualismus" eine wichtige Rolle. Locke verknüpft die bürgerlichen Rechte mit dem Besitz. Wertvoll für die Gesellschaft ist derjenige, der es versteht, die Kapitalmaximierung voranzutreiben. Für Karl Marx ist hier der Entstehungsort der sozialen Ungleichheit zu finden, die er heftig kritisierte.
Erkenntnistheorie: "Schutt beseitigen..."
Von den meisten Philosophen wurde Locke - im Gegensatz zu seinen Neigungen zur empirischen, konkreten Welt - für seine Untersuchungen zur Erkenntnistheorie gefeiert. So schrieb Voltaire: "Niemals gab es einen klügeren, methodischeren Geist als Locke."

In seinem Hauptwerk "Essay über den menschlichen Verstand" versuchte er, "den Baugrund etwas aufzuräumen und einen Teil des Schuttes zu beseitigen, der den Weg zur Erkenntnis versperrt."

Aufräumen wollte er vor allem mit der Idee von René Descartes, wonach die Ideen dem menschlichen Geist angeboren seien. Ideen spielen auch bei Locke eine zentrale Rolle. Er meint, dass wir nicht über angeborene Ideen verfügen, sondern über die Fähigkeit, Ideen zu bilden.

Der Ursprung der Ideen liegt in der Erfahrung, die sich in eine äußere und innere Erfahrung gliedert. Die äußere, sinnliche Erfahrung arbeitet mit inneren, mentalen Vorgängen des Geistes zusammen. Der menschliche Verstand nützt diese Zusammenarbeit, hat aber durchaus ein kreatives Potenzial.
Aufruf zu eigenständigem Denken
So hat der Mensch die Möglichkeit, sich aus "seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Immanuel Kant) dank seines kreativen Verstandes zu befreien und gleichzeitig selbstverantwortlich für die Gesellschaft tätig zu sein.

Locke ruft dazu auf, sich nicht in die gegebenen sozialen und gesellschaftliche Zwänge einzufügen, sondern sein Leben als "Selbstdenker" zu gestalten.

Nikolaus Halmer, Ö1-Dimensionen, 28.10.04
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Literaturhinweis
John Lockes philosophisches Hauptwerk "Versuch über den menschlichen Verstand" ist im Felix Meiner Verlag erschienen.
Die Einführung von Udo Thiel zu Locke wurde als Band 50450 der rowohlts monographien publiziert.
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01.01.2010