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Massenmedien und Europäische Öffentlichkeit(en)  
  Rund 455 Millionen Menschen aus 25 Nationen leben seit der jüngsten Erweiterung unter dem Dach der Europäischen Union vereint - ein in seiner Größe und Vielfalt einzigartiges supranationales Gebilde. Die Bildung einer entsprechenden "Europäischen Öffentlichkeit" steht seit geraumer Zeit zur Diskussion. Deren politische Funktionen erforscht der Politikwissenschaftler Christoph Bärenreuter derzeit am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien - und gibt Einblick in einen komplexen Prozess, bei dem vor allem den Medien eine entscheidende Rolle zukommt.  
Europäische Öffentlichkeit und ihre politischen Funktionen
Von Christoph Bärenreuter

Spätestens mit der Unterzeichnung der Verträge von Maastricht (1991) und von Amsterdam (1997) erreichte die Europäische Union einen Grad der Integration, der bis dahin bekannte zwischenstaatliche Formen der Zusammenarbeit deutlich übertraf.
Stichwort "Demokratiedefizit"

Negative Referenden - wie etwa das (vorläufige) dänische "Nein" zum Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 - machten schließlich deutlich, dass Europäische Integration nicht länger nur ein Eliten-Projekt sein konnte.

Der "permissive Konsens", demzufolge das "Schweigen" der Bevölkerung als Zustimmung zur europäischen Integration interpretiert wurde, konnte offensichtlich nicht mehr vorausgesetzt werden. In den 1990ern entwickelte sich folglich eine ausführliche akademische Debatte über das "Demokratiedefizit der EU".
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Seminar am IWM
Christoph Bärenreuter stellt sein Forschungsprojekt am 3. November 2004 um 14.30 Uhr in einem Junior Visiting Fellows' Seminar unter dem Titel "Researching the European Public Sphere: A critical review of empirical approaches" am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), Spittelauer Lände 3, 1090 Wien vor.
->   IWM
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Öffentlichkeit als Voraussetzung von Demokratie
In letzter Zeit rückt verstärkt die Frage nach einer Europäischen Öffentlichkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Eine funktionierende Öffentlichkeit, verstanden als Kommunikationsraum, in dem politische Themen von Akteuren des politischen Systems (Parteien, Ministerien, Gewerkschaften, Interessensorganisationen der Wirtschaft etc.), der Zivilgesellschaft, aber auch von Privatpersonen diskutiert werden, gilt gemeinhin als Voraussetzung für die demokratische Verfasstheit eines politischen Gemeinwesens.
Massenmedien im Blickpunkt
Dieser Kommunikationsraum kann in Staaten oder supranationalen Einheiten wie die EU nur über Massenmedien hergestellt werden.

Massenmedien stellen dabei nicht nur eine Plattform für die genannten Akteure dar, auf der sie ihre politischen Anliegen, Interessen und Meinungen an ein Massenpublikum kommunizieren können. Vielmehr sind sie selbst Akteure, die sich auch an politischen Diskussionen beteiligen.
Politische Funktionen der Öffentlichkeit
Darüber hinaus wird in der Öffentlichkeit auch über die Legitimität politischer Entscheidungen befunden, werden Meinungen gebildet und debattiert und kollektive Identitäten konstruiert.

Nicht zuletzt sind die Medien auch eine Voraussetzung für die Ermöglichung von "Responsivität". Unter diesem Schlagwort versteht man die Fähigkeit des politischen Systems auf die Präferenzen der Bürger einzugehen und diese in der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.

Die dafür notwendige wechselseitige Kommunikation wird durch die Vielfalt und Freiheit der Medienberichterstattung gewährleistet.
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Supranationale Medien?
Während sich auf Ebene des Nationalstaats das politische System und das Öffentlichkeitssystem in ihrer territorialen Ausbreitung decken, ist diese Kongruenz auf EU-Ebene nicht gegeben. Den Institutionen der EU stehen (mit wenigen Ausnahmen) keine paneuropäischen Medien gegenüber, die die politischen Funktionen der Öffentlichkeit übernehmen könnten. Auch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich solche Medien bilden werden, aufgrund der sprachlichen und kulturellen Vielfalt der mittlerweile 25 Mitgliedsstaaten der EU eher gering. Daraus sollte aber noch nicht geschlossen werden, dass eine Europäische Öffentlichkeit nicht möglich ist.
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Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten
In den letzten Jahren wird verstärkt die Möglichkeit der Entwicklung einer Europäischen Medienöffentlichkeit durch die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten diskutiert. Dabei ist jedoch die Frage, wann eine Öffentlichkeit als "europäisiert" bezeichnet werden kann, umstritten.
Ähnliche Berichterstattung
So vertreten manche Autoren die Ansicht, dass nationale Medienöffentlichkeiten dann europäisiert sind, wenn im Ländervergleich festgestellt werden kann, dass nicht nur über die selben europäischen Themen berichtet wird, sondern auch eine ähnliche Problemwahrnehmung vorherrscht.

Der konkrete Fall der kritischen Berichterstattung in vielen europäischen Medien zum geplanten EU-Kommissar Rocco Buttiglione würde diesem Ansatz zufolge eine europäische Öffentlichkeit darstellen.
Kommunikation über Grenzen hinweg
Andere Autoren wiederum betrachten das Ausmaß des kommunikativen Austausches zwischen Medien und Akteuren aus unterschiedlichen Ländern als Kriterium für die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten.

So würde beispielsweise ein Artikel, in dem ein österreichischer Journalist auf ein von einer spanischen Politikerin vorgebrachtes Argument reagiert, eine europäische Öffentlichkeit darstellen.
Europa-Bild der Medien
Einem weiteren Ansatz zufolge ist die Art und Weise, wie über Europa berichtet wird, entscheidend für die Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten.

Die zentrale Frage lautet dabei, welche Positionen von Medien in Bezug auf die europäische Integration generell bzw. in Bezug auf konkrete politische Vorhaben auf EU-Ebene vertreten werden. Wird Europa als Gefahr für die jeweiligen nationalen Interessen und/oder Identitäten oder wird es als diesen förderlich dargestellt?
Viele Definitionen: Wer hat recht?
Alle diese Definitionsversuche sind plausibel und beleuchten unterschiedliche Aspekte der Europäisierung von Mediendiskursen. Angesichts der unterschiedlichen Definitionen stellt sich jedoch die Frage, welches dieser Kriterien entscheidend ist für das Vorhandensein einer Europäischen Öffentlichkeit.

Eine Antwort auf diese Frage kann nur gefunden werden, wenn man berücksichtigt, dass Öffentlichkeit unterschiedliche politische Funktionen zugeschrieben werden. Im multinationalen Institutionengefüge der EU lässt sich die Erfüllung dieser Funktionen jedoch nur messen, wenn für die jeweiligen Öffentlichkeitsfunktionen unterschiedliche Indikatoren verwendet werden.
Europäische Identität(en)
Stellt man sich beispielweise die Frage, ob europäische Medien in ihrer Berichterstattung zur Konstruktion einer europäischen Identität beitragen oder nicht, so macht es wenig Sinn, die Ähnlichkeit der Problemwahrnehmung in unterschiedlichen Ländern als Kriterium zu verwenden.

Die Konstruktion einer europäischen Identität geschieht in jedem Land vor dem Hintergrund unterschiedlicher Geschichtsnarrative und nationaler Identitätskonstruktionen.

Folglich wird auch "Europa" in öffentlichen Debatten in unterschiedlichen Ländern (und teils auch Regionen) auf je spezifische Weise definiert. Statt von einer einheitlichen europäischen Identität zu sprechen, muss man mit unterschiedlichen Europakonzeptionen und -identitäten rechnen.
Schlagwort Responsivität
Anders stellt sich die Situation dar, wenn man die Responsivität untersuchen möchte. Durch die multinationale Zusammensetzung der EU ist die Breite an politischen Meinungen und Standpunkten potenziell noch größer als innerhalb der jeweiligen Nationalstaaten. Zudem können innerhalb der EU national gefärbte Interessen zutage treten.

Durch diese potenzielle Heterogenität des "Meinungs-Inputs" in das politische System, wird es für dieses schwierig, sich gegenüber den geäußerten Präferenzen "responsiv" zu zeigen. In solchen Fällen ist die Komplexität der an das politische System herangetragenen Präferenzen zu groß, um daraus eine Handlungsanweisung für die Politik abzuleiten.

Um auf Seiten des Öffentlichkeitssystems die Voraussetzung für responsives Regieren auf EU-Ebene zu schaffen, müsste folglich eine Komplexitätsreduktion dadurch stattfinden, dass nicht nur die selben politischen Themen in unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten debattiert werden, sondern dass sich zusätzlich die zu diesen Themen geäußerten Präferenzen auf ein überschaubares Spektrum reduzieren lassen.
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"eurozine"-Schwerpunkt "European public sphere"
Dem Thema der "European public sphere" widmet sich auch ein Schwerpunkt der multilinguale Web-Kulturzeitschrift "eurozine". Unter dem Titel "Europe talks to Europe - towards a European public sphere?" findet sich eine Vielzahl von Beiträgen.
->   Die Beiträge im Überblick (www.eurozine.com)
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Institutionelle Voraussetzungen
Bei allen Überlegungen zum Zusammenhang von Öffentlichkeit und Responsivität sollte jedoch nicht darauf vergessen werden, dass auch von Seiten der EU-Institutionen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um responsives Regieren zu ermöglichen.
Wahlen als Anreiz für die Politik
So muss es beispielsweise einen Anreiz für das politische System geben, auf die Präferenzen der Bürger zu reagieren.

Effektivstes Mittel dafür sind Wahlen, durch die Verantwortungsträger ihres Amtes enthoben werden können. Abgesehen von Wahlen zum Europäischen Parlament, das aber nach wie vor über nur eingeschränkte Entscheidungsbefugnisse verfügt, besteht auf EU-Ebene diese Möglichkeit zur Zeit nicht.
Transparenz und Nachvollziehbarkeit
Eine andere zentrale Voraussetzung wäre, dass politische Entscheidungsprozesse transparent und nachvollziehbar sein müssen. Durch die derzeitige institutionelle Struktur der EU, in der zahlreiche Beschlüsse hinter verschlossenen Türen in Ausschüssen vorbereitet werden, wird auch diese Voraussetzung nicht erfüllt

Eine Europäische Öffentlichkeit, die ihre politischen Funktionen erfüllt, setzt daher auch eine Demokratisierung der Europäischen Institutionen voraus.

[1.11.04]
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Informationen zum Autor
Christoph Bärenreuter ist Doktorand der Politikwissenschaften an der Universität Wien. Als DOC-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften forscht er am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) zum Thema "Europäische Öffentlichkeit. Demokratietheorie und Empirie".
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Mehr zu diesen Themen in science.ORF.at:
->   Die Grenzen der Europäischen Integration (24.8.04)
->   Zukunftsvision für ein Europa im Jahr 2025 (20.7.04)
->   "Imagined Community": Bilder für eine europäische Identität (26.5.04)
->   Der schwierige Weg zu einer Europa-Identität (7.3.03)
 
 
 
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01.01.2010