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Ende der Renaissance: Körper regiert Geist  
  Ende des 16. Jahrhunderts waren sich die meisten Philosophen einig, dass das geistige Vermögen den Menschen vom Tier unterscheidet. Wie der Historiker und Philosoph Sergius Kodera vom IFK Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaft ausführt, brachen die Denker in Süditaliens Metropole Neapel radikal mit diesem Ansatz - und reagierten damit auf das brutale Leben in der damals zweitgrößten Stadt Europas.  
Neue Naturphilosophie, Kolonialherrschaft, Inquisition im Neapel des 16. Jahrhunderts
Bild: IFK
Von Sergius Kodera

Eine erstaunliche Anzahl von einflussreichen innovativen und radikalen Philosophen verbrachten wichtige Jahre ihres Lebens im Neapel des späten 16. Jahrhunderts, der damals zweitgrößten europäischen Metropole.

Steht die politische, religiöse und soziale Situation Neapels in Zusammenhang mit den neuen Philosophien?
Südliche Zentren in der Ideengeschichte unbeachtet
Bis heute ist Süditalien der vernachlässigte Teil der Apeninnenhalbinsel. Das ist auch in der Ideengeschichte des 16. Jahrhunderts so.

Einigkeit scheint darin zu bestehen, dass sich die intellektuellen Zentren der Renaissance von Italien im Laufe des Jahrhunderts nach Nordeuropa verlagern, nach Frankreich, Deutschland, in die Niederlande und nach England, wo doch zuvor Padua und Florenz, Rom und Bologna führende Städte der Renaissance-Kultur im allgemeinen gewesen waren, ja von wo diese Strömung ihren Ausgang genommen hatte.

Dennoch hat der Süden Italiens in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts eine erstaunliche Anzahl von Intellektuellen hervorgebracht, deren Bücher in ganz Europa gelesen und gedruckt wurden, wie z. B. Bernardino Telesio, Giambattista della Porta und Giordano Bruno.
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Vortrag am IFK
Sergius Kodera spricht am Montag, 8. November 2004, um 18 Uhr c.t. zum Thema "Am Ende der Renaissance. Neue Naturphilosophie, Kolonialherrschaft, Inquisition und die Metropole des Südens".

Der Vortrag findet am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschschaften, 1010 Wien, Reichsratsstraße 17 statt.
->   IFK
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Alle bedeutenden Philosophen lebten in Neapel
Die Philosophen sind ganz unterschiedlicher Herkunft und verbrachten entscheidende Jahre ihres Lebens in der Metropole des Südens: in Neapel, der Hauptstadt des spanischen Vizekönigtums.

Trotz schwierigster politischer, religiöser und sozialer Konstellationen haben sie das gesamteuropäische intellektuelle Leben ihrer Epoche entscheidend mitbestimmt.
Abkehr von traditioneller Naturphilosophie
Sie kritisierten heftig die traditionelle Naturphilosophie und entwickelten radikale Theorien: Beispielsweise stehen die Menschen nach ihrer Auffassung weder im Zentrum der Schöpfung, noch unterscheiden sie sich essentiell von Tieren.

Parallel dazu wird die traditionelle Kosmologie (geozentrisches Weltbild, Elementenlehre, Existenz von Dämonen) durch neue Ordnungssysteme abgelöst, die auf der unmittelbaren Evidenz sinnlicher Wahrnehmung und nicht mehr auf metaphysischer oder religiöser Spekulation beruhen.
Mensch hat keine Sonderstellung in der Schöpfung
Dies sind nicht nur für die Frühe Neuzeit ausgesprochen radikale Phänomene, in denen der Vorrang des Geistigen vor dem Körperlichen de facto zunichte gemacht wird.

Das Körperliche bedingt das Geistige ebenso, wie umgekehrt mentale Vorgänge sich desaströs auf den Körper auswirken können: Da ist nichts von Willensfreiheit und von Selbstbestimmung zu hören oder davon, dass der Mensch gottebenbildlich im Zentrum der Schöpfung steht oder dass er eine Sonderstellung im großen Welttheater einnehmen würde.

Bruno sagt, dass manche Schlangen vielleicht intelligenter als Menschen wären, sie aber nicht über das notwendig ein Instrumentarium verfügen, um diese geistige Anlage zu entwickeln. Die Wahrheit liegt im nackten Körper, der in jeder Hinsicht manipulierbar ist.
Reaktion auf urbane Realität
Eine solche Naturalisierung der Welt war nicht bloß Ergebnis innerphilosophischer Debatten, sondern ist auch die Reaktion einer intellektuellen Elite auf die komplexe urbane Realität Neapels.

Sie war von besonderer Enge, brutaler Repression in Politik und Religion gekennzeichnet und zugleich verbunden mit einer durch die Spanische Kolonialherrschaft erzwungenen Öffnung zur iberischen Halbinsel und der "Neuen Welt" der amerikanischen Dominios.

Bezeichnenderweise ereignete sich der erste Ausbruch der Syphilis in Europa wenige Jahre nach der Entdeckung Amerikas gerade in Neapel.
Explosives Gemisch durch Widersprüche
Die spanischen Statthalter des 16. Jahrhunderts waren für die rücksichtlose Umsetzung der Befehle aus der Heimat bekannt, konnten aber die Metropole trotzdem nur unzureichend kontrollieren; stets suchte die Kolonialmacht das Einverständnis der lokale Elite, zog diese immer weiter von der ländlichen Besitzungen in die Hauptstadt um sie besser kontrollieren zu können.

Neapel war im späten 16. Jahrhundert mit seinen vielleicht 300.000 Einwohnern nach Paris die zweitgrößte Stadt ¿ so dicht besiedelt wie nur Istanbul.

Es ist genau dieser Widerspruch aus erzwungener Enge und Internationalität, von konfessionaler Kleingeistigkeit und kolonialer Öffnung, von außerordentlicher Prunksucht und Hungerrevolte, von Kapitalbewegungen zugunsten der herrschenden Schichten, gepaart mit ökonomischer Rezession, der aus der Stadt ein so explosives Gemisch machte.
Bandenunwesen und verhasste Soldaten
Neapel fehlt ¿ im Gegensatz zu den Ballungszentren des Nordens ¿ die protoindustrielle Entwicklung. Die Verwaltung des Landes bleibt ineffektiv, das Bandenunwesen in den ländlichen Regionen wird zwar unnachsichtig bekämpft, trotzdem bleibt Neapel selbst eine anarchische Stadt: Die Volksaufstände 1547 und 1564 werden von der gesamten Bevölkerung getragenen.

Die undisziplinierten und oft unterbezahlten Spanischen Bestatzungssoldaten sind wegen ihre zahlreichen Übergriffe und ihrer regelrechten Wegelagerei verhasst.
Kriminelle Mönche
In der "wildesten und grausamsten Stadt", die er je gesehen hat, wie Laurenz Schrader, ein Italienreisender aus deutschen Landen, im Jahr 1592 schreibt, begehen selbst Mönche zahlreiche Kapitalverbrechen: Sie können mit deutlich milderen Strafen rechnen als die Normalbürger.

Am schlimmsten sind die Anhänger häretischer Glaubensgemeinschaften dran: Der Aufstand der Valdenser im Süden des Vizekönigreiches wurde mit solcher Härte unterdrückt, dass selbst Rom um Milde und Nachsicht für die Opfer bat.

Der Aufstand von 1564 führte in den drei folgenden Jahren zu mehr als 30 Inquisitionstribunalen, die in der überwiegenden Anzahl mit dem "auto da fè" der Angeklagten und der Konfiskation ihres Eigentums endeten und von weiteren schweren Unruhen in begleitet waren.
Rückzug auf Wahrheit des nackten Körpers
Die radikalen Philosophen Neapels hatten Grund genug, metaphysische Spekulationen aufzugeben und sich auf die Untersuchung des Körpers zurückzuziehen; die traditionelle aristotelische Philosophie war seit der Mitte des 15. Jahrhunderts heftig umstritten; öffentlich geführte theologische Debatten ebenso wie politisches Denken brachte einen Intellektuellen mit großer Wahrscheinlichkeit in eines der geistlichen oder weltlichen Gefängnisse.

Was blieb, war der Rückzug auf die Wahrheiten, die der nackte Körper zu vermitteln hatte, der Rückzug auf die sinnliche Evidenz des Physischen, die allen Lebewesen gemeinsam waren, denn dieses Feld der Untersuchung schien von den politischen und religiösen Institutionen am wenigsten besetzt zu sein.
Scheu vor politisch belasteter Theologie...
Auch die zahlreichen grausamen und qualvollen öffentlichen Hinrichtungen und Verstümmelungen lieferten reiches Anschauungsmaterial für die Vorstellung, dass der Mensch sich nur in physischer, nicht aber in essentieller Weise von den Tieren unterscheide.

Aus der politischen Perspektive des 16. Jahrhunderts waren öffentliche Exekutionen ein Ausdruck absoluter Verfügungsgewalt des Herrschers über seine Subjekte, und sie markierten und entmenschten bewusst den Verurteilten.

Indem sich die Philosophen mit der Erforschung der Wahrheiten des Körpers beschäftigten, versuchten sie den Theologen ganz bewusst auszuweichen und sich auf ein Territorium zu konzentrieren, in dem sie vermeintlich unbehelligt denken konnten.
...trotzdem Zensur und Haft
Das Verhalten der neapolitanischen Naturphilosophen ist daher weniger als offene Rebellion denn als der Versuch zur Schaffung eines eigenen Bereiches zu verstehen, der allerdings in allen Fällen gescheitert ist.

Bernardino Telesio und Giambattista della Porta hatten Schwierigkeiten mit der Zensur, und Giordano Bruno wurde nach achtjähriger Haft im Jahr 1600 in Rom verbrannt.

[8.11.04]
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Über den Autor
Sergius Kodera, Univ.-Doz. Dr. phil., ist Lektor mit Schwerpunkt Geistesgeschichte der Renaissance am Institut für Philosophie der Universität Wien; Er habilitierte sich 2004 mit einer Studie zu den Körperlehren im Renaissance-Neuplatonismus. 2004/2005 IFK_Research Fellow.
Publikationen u.a.: Giordano Bruno, Der Kerzenzieher, Candelaio (Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen), Hamburg 2003; Disreputable Bodies: Explorations into Renaissance Natural Philosophy 1460¿1600, Wien, im Erscheinen;
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01.01.2010