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Bologna-Prozess: Wohin führen die Uni-Reformen?  
  Die Bologna-Erklärung eint mittlerweile 40 europäische Länder: Ziel ist ein einheitliches Hochschulsystem, das zur Verbesserung des europäischen Wirtschaftsraums beiträgt. Dass "neoliberale Ökonomisierung" des Bildungssystems aber nicht die einzig mögliche Konsequenz des Bologna-Prozesses ist, meint die Hochschulforscherin Ada Pellert in einem Gastbeitrag. Unis, so ihre These, hätten nun auch die Chance, tief greifende didaktische Verbesserungen durchzuführen und die Studiengestaltung den Anforderungen der Massenausbildung anzupassen.  
Neoliberale Ökonomisierung oder zukunftsträchtige Bildungspolitik?
Von Ada Pellert

Unter dem Stichwort "Bologna-Prozess" läuft in den letzten Jahren eine Europäisierung der Bildungspolitik ab, die in ihrer Radikalität noch vor einigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Der Bologna-Erklärung - ein 1999 freiwillig eingegangenes Arbeitsprogramm - sind inzwischen 40 europäische Länder beigetreten.

Eines der zentralen Anliegen von Bologna ist, ein System von leicht erkennbaren und vergleichbaren Studienabschlüssen zu schaffen, um bereits im Jahr 2010 einen harmonisierten europäischen Hochschulraum zu realisieren, der immerhin mehr als 4.000 Hochschulen und über zwölf Millionen Studierende umfasst.
Zweistufiges Studienmodell nach US-Vorbild
Vorbild für das vereinbarte zweistufige Studienmodell sind die angloamerikanischen Abschlüsse Bachelor (Studiendauer 3-4 Jahre) und Master (Studiendauer 1-2 Jahre).

Mit dieser Internationalisierung soll vor allem die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Systems auf den globalen Bildungsmärkten gestärkt werden.
Module mit einheitlicher "Bildungswährung"
Die angestrebten Ziele der erhöhten Mobilität der Studierenden und Lehrenden sowie eine Individualisierung des Studiums können nur durch eine Vergleichbarkeit von Studienleistungen erreicht werden.

Diese soll durch eine Aufgliederung eines Studiums in Module und die Einführung eines Leistungspunktesystems (ECTS = European Credit Transfer System) als "Bildungswährung" unterstützt werden. Ebenfalls vereinbart wurde eine Harmonisierung der Qualitätssicherungsverfahren.
Polarisierung an Österreichs Hochschulen
Wenn man sich an österreichischen Hochschulen umhört, so hat der Bologna-Prozess zu einer Polarisierung geführt. Unübersehbar hat sich eine Kluft zwischen den Promotoren des europäischen Hochschulraumes, also vor allem Hochschulleitungen und Bildungspolitikern, und eher kritisch eingestellten Lehrenden und Studierenden gebildet.
Teil der "Lissabon-Strategie"
Die Bologna-Reform ist ihrem Wesen nach eine Top-Down-Reform, eingebettet in die so genannte "Lissabon-Strategie". Diese will Europa bis zum Jahr 2010 zur "most competetive knowledge based econonmy of the world" machen.

Für viele Hochschulangehörige ist der Bologna-Prozess jedoch nur ein weiteres Puzzle-Stück in einem ohnehin seit Jahren laufenden Reformstakkato im Hochschulbereich.
Verschulung statt Humboldt-Modell?
Darüber hinaus verstehen nicht wenige Lehrende und Studierende Bologna auch als eine Chiffre für ökonomisch geprägte kulturelle Vereinheitlichungstendenzen, denen sie sehr skeptisch gegenüber stehen: Ist es sinnvoll, immer mehr Studierende in immer kürzerer Zeit durch die Universitäten zu schleusen?

Die erhöhte Verbindlichkeit des Lehrbetriebs, die mit Bologna einhergeht, wird mit Verschulung assoziiert und als abzuwehrenden Angriff auf das Humboldtsche Modell der sich selbst bildenden Studierenden, die sich eigenständig durch forschendes Lernen entwickeln, gesehen.
Massenunis wurden zum "Laissez-faire-System"
Bei all dieser - zum Teil berechtigten - Kritik wird jedoch ausgeblendet, dass in den modernen Massenuniversitäten inzwischen ein "Laissez-faire-System der Lehre" entstanden ist, das zu einer hohen Zahl von StudienabbrecherInnen geführt hat mit der Folge, dass Österreich im Vergleich der OECD-Staaten viel zu geringe Akademikerquoten aufweist.
Bologna-Reformen mehr als Oberflächenmodernisierung
Der Bereich der Lehre ist also dringend verbesserungsbedürftig und hier könnte der Bologna-Prozess in gewisser Weise als Katalysator dienen. Richtig verstanden und genutzt, könnten die Bologna-Reformen mehr als eine ökonomisch inspirierte Oberflächenmodernisierung sein.

Hochschulen eröffnet sich die Chance, die entstehende Dynamik für tief greifende didaktische Verbesserungen nutzen, die zwar die Einheit von Forschung und Lehre nicht in Fragen stellen, aber die Studiengestaltung den Anforderungen der Massenausbildung anpassen.
"From teaching to learning"
Die Differenzierung in eine undergraduate und graduate-Phase, die Bologna vorschlägt, kann hierbei hilfreich sein. Ziel sollte ein universitäres Lehr- und Lernmodell sein, das die Ansprüche an kritisch-reflexive universitäre Bildung mit den vielfältigen Erwartungen an Massenhochschulsysteme in Einklang bringt und das Schlagwort "from teaching to learning" ernst nimmt.
Könnte auch für Studierende positiv sein
Bologna bietet außerdem die Möglichkeit, die Reformbemühungen konsequenter aus der Perspektive derjenigen zu sehen, für die die Reformen der letzten Jahren in Österreich paradoxerweise noch wenig gebracht haben: die Studierenden.

Vieles spricht dafür, die Anreizsysteme für Hochschullehrer künftig so zu gestalten, dass nicht mehr nur der Erfolg in der Forschung, sondern auch das Engagement in der Lehre karrierefördernd sind.
Neue Auswahlverfahren statt "Rausprüfen"
Um die Qualität des Studiums nachhaltig zu verbessern, brauchen Hochschulen die Möglichkeit, sich ihre Studierenden per Auswahlverfahren auszusuchen. Das österreichische System des offenen Hochschulzugangs mit anschließendem "Rausprüfen" ist keine Perspektive, weil es zu viele Ressourcen an den falschen Stellen bindet.

Zugleich müssen aber auch Vorstellungen entwickelt werden, wie der Übergang zwischen Bachelor- und Magisterstudiengängen quantitativ und qualitativ gestaltet werden soll. Sonst entstehen angesichts von Bologna schnell elitäre Vorstellungen: die Masse schließt mit dem Bachelor ab und nur wenige - wissenschaftlich - Auserwählte gelangen ins Master-Studium.
Zugangsöffnung, Verkürzung und lebenslanges Lernen
Die Diskussion um die Neugestaltung des Hochschulzugangs müsste in eine Richtung weitergetrieben werden, in der die traditionelle Kopplung von studienberechtigenden Gymnasialabschluss und Studienzugang gelockert und um individuelle Kompetenzenprüfung erweitert wird.

Das sollte eine insgesamt stärkere Öffnung der Hochschulen bedeuten, gut gebahnte Zugangswege für Berufstätige und die Anerkennung von "prior learning" im Sinne der in der beruflichen Ausbildung und Arbeit erworbenen Qualifikationen und Erfahrungen.

Eine Verkürzung der Studiendauer ist in einer Wissensgesellschaft nur sinnvoll, wenn sie kombiniert wird mit einem konsequenten Ausbau der Weiterbildung bzw. des "life long learning".
Politik und Hochschulen gefordert
Der Bologna-Prozess kann also eine zukunftsträchtige Strategie sein ¿ allerdings nur dann, wenn er flexibel umgesetzt und kombiniert wird mit einem überzeugenden und finanziell abgesicherten Einstieg in das lebenslange Lernen.

Hier sind Politik und Hochschulen gefordert, gemeinsame und kreative Weg zu finden mit dem Ziel, der Gesellschaft attraktive Lernorte zur Verfügung zu stellen.

[10.11.04]
->   Homepage Ada Pellert (Fakultät für
Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung - IFF)
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Hochschulpolitisches Forum
Dieser Beitrag entspringt der Veranstaltung "Hochschulpolitisches Forum" - eine Kooperation von IFF - Abteilung Hochschulforschung (Universität Klagenfurt) mit der Ö1-Wissenschaftsredaktion und dem "Standard". Nächster Event: "Die Reise nach Bologna. Neoliberale Ökonomisierung oder zukunftsträchtige Bildungspolitik?"

Teilnehmer:
Hubert Dürrstein, Rektor der Universität für Bodenkultur
Barbara Weitgruber, Sektionschefin (Bildungsministerium)
Holger Heller, Industriellenvereinigung
Ada Pellert, IFF/Universität Klagenfurt
Vertreterin der Österreichischen HochschülerInnenschaft
Moderation: Sigrun Nickel, IFF/Hochschulforschung

Zeit: Donnerstag 11. November 2004, 18.00 Uhr
Ort: ORF KulturCafe, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien, Eintritt frei

Eine Zusammenfassung ist in den "Dimensionen" am 12.11. um 19.05 Uhr im Programm Österreich 1 zu hören.
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->   "Der Standard"
->   IFF
->   Ö1
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Hochschulforscher fordert Uni-Anstellungen wie in USA (23.3.04)
 
 
 
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01.01.2010