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"Familistere": Gelebte Sozialutopie im 19. Jahrhundert  
  Sozialer Wohnbau, Gewinnbeteiligung von Arbeitern, geförderte Kultur- und Freizeiteinrichtungen: Was nach den Errungenschaften der Jahre des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg klingt, gab es als gelebte Sozialutopie bereits ein Jahrhundert zuvor. Ein neues Buch widmet sich dieser fast vergessenen Geschichte - den Arbeits- und Wohnmodellen des französischen Industriellen Jean Baptiste Godin im 19. Jahrhundert.  
Rudolf Stumberger, freier Journalist und Soziologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München zeichnet die Geschichte des so genannten Familistere, eines einzigartigen Experiments nach.
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Rudolf Stumberger: Das Projekt Utopia. Geschichte und Gegenwart des Genossenschafts- und Wohnmodells "Familistere Godin", 144 Seiten, VSA Verlag, Hamburg 2004
->   VSA Verlag
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Bourdieu: Erinnerung an Sozialerfahrungen in Europa

Um der Verbreitung ökonomistischen Denkens in alle gesellschaftlichen Bereiche entgegen zu treten, hatte der 2002 gestorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu dazu aufgerufen, sich der Vielfalt sozialer Erfahrungen in der Geschichte Europas zu erinnern.

Einer der diesem Aufruf gefolgt ist, ist der Soziologe Rudolf Stumberger. Seine Wahl trifft mit dem "Familistere Godin" einen Vorreiter in Sachen Sozialpolitik: Sozialleistungen, Gewinn- und Eigentumsbeteiligung der Arbeiter und sozialer Wohnbau waren ihrer Zeit weit voraus - und fußten auf den Ideen des Sozialutopikers Charles Fourier (1772-1837).
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Charles Fourier
Fourier glaubte, dass durch die Bildung von Produktions-Genossenschaften, die Übel des Frühkapitalismus überwunden werden könnten.
->   Mehr über Fourier (wikipedia)
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Soziale Großwohnanlagen
Bild: VSA Verlag
Gemälde von
Jean Baptiste Godin
1856 hatte der Ofenfabrikant Jean Baptiste Godin in Guise - einem kleinen Dorf in der Picardie, rund 150 Kilometer nordöstlich von Paris - so genannte Sozialpaläste gegründet. Dabei handelte es sich um Großwohnanlagen für die Arbeiter seiner nahe gelegenen Ofenfabrik.

Die Wohnanlagen für je 500 Bewohner waren mit jeweils einem überdachten Innenraum und mit modernen Ausstattungen (z.B. gemeinsamen Müllschluckern) versehen. Dazu gehörten eine Reihe weiterer Einrichtungen wie Theater, Schulen, Restaurants, Wirtschaftsgebäude oder Schwimmbäder.
Erfolgreiche Ofenfabriken
 
Bild: VSA Verlag

Badewannenherstellung in der Gießerei der Fabrik 1899

Die wirtschaftliche Basis für diese Bemühungen bestanden in Godins Ofenfabriken: die erste 1846 am Stadtrand von Guise gegründet, die zweite sieben Jahre später in der Nähe von Brüssel.

In beiden wurden Öfen aus Gusseisen und Kaminverkleidungen - dank eines einzigartigen Patents sehr erfolgreich - hergestellt. Am Höhepunkt beschäftigten die Fabriken einige Tausend Arbeiter - selbst in den 1960er Jahren waren es noch rund 1.000.
Übergabe der Eigentumsrechte an Arbeiter ...
In der Umsetzung seiner politischen Ideen ging Godin 1880 daran, seine Eigentumsrechte von Fabrik und Wohngebäude an eine Assoziation der Arbeiter zu übertragen. Das ursprüngliche Kapital war innerhalb von 14 Jahren komplett in die Hände der Mitglieder der Assoziation gegangen.

Die Assoziation war eine Art Produktivgenossenschaft mit Gewinnbeteiligung ihrer Mitglieder. Dazu kamen die Arbeiter in den Genuss sozialer Vorsorgemaßnahmen, die für die Allgemeinheit erst später staatlich garantiert wurden.
... aber ohne Mitspracherechte
Allerdings: die einfachen Mitglieder der Genossenschaft blieben "ohne nennenswerte Mitspracherechte", so Stumberger. An der Spitze der Fabrik stand der von der Generalversammlung auf Lebenszeit gewählte Verwaltungsdirekter: Godin selbst nahm diese Position bis zu seinem Tod 1888 ein.

Sturmberger bezeichnet diesen Widerspruch zwischen Aufteilung des Eigentums und Festhalten an der Leitungsfunktion als "praktizierten Paternalismus".
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Nur ein Streik in der Firmengeschichte
Sozialpartnerschaftlich betrachtet war das Modell Godin ein Erfolg: Bis auf einen Streik 1929 kam es zu keinen Arbeitskämpfen. In diesem Jahr waren die Interessen der Mitglieder der Assoziation und Bewohner der Familistere - die so genannten Familisteriens - und jene von hinzugezogenen Hilfskräften aufeinander geprallt. Der Streik endete mit einer allgemeinen Lohnerhöhung, aber auch mit der Entlassung einer Reihe von Nicht-Mitgliedern der Genossenschaft.
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Sorge ums kulturelle Wohlergehen
Zwar wurde auch im Familistere der Arbeit gehuldigt - der durchschnittliche Arbeitstag der Arbeiter dauerte zehn Stunden, sechs Tage in der Woche -, doch sorgte sich Godin auch um Freizeit und Kulturgenuss "seiner" Werktätigen. So gab es für Theateraufführungen, Konzerte und Sportvereine eigene Räumlichkeiten - und die Arbeiter wurden auch angehalten, daran teilzunehmen.

Gesellschaftliche Höhepunkte des Jahres waren der "Tag der Arbeit" am 1. Mai sowie das "Fest der Kinder" am ersten Septembersonntag.
Ende 1968, bald ein Utopie-Museum
Treppenwitz der Geschichte: Ausgerechnet im Revolutions- und Massenprotestjahr 1968 kam es zum Ende des utopischen Experiments von Guise - fast einhundert Jahre nach seinem Beginn. Die Assoziation wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und an einen französischen Küchenhersteller verkauft.

Nach einem kurzen Dornröschenschlaf, wurde die Gemeinde in den 90er Jahren wieder aktiv, 1991 wurde die Familistere zum "Historischen Monument" erklärt. Bis 2006 soll sie unter dem Namen "Projekt Utopia" restauriert und teilweise in ein Museum umgewandelt werden.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 12.11.04
->   La familistere de Guise
 
 
 
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01.01.2010