News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Völkerkunde unter Hitler: Lehren für die Gegenwart  
  Völkerkunde und Anthropologie im Dienst des Dritten Reiches: Das ist das Thema einer Vorlesung des Ethnologen Andre Gingrich, die er dieser Tage an der Johns Hopkins-University in Baltimore gehalten hat. Von der Fachwelt viel beachtet, widmete sich Gingrich heiklen Fragen: Waren die Völkerkundler für den Missbrauch ihrer Forschungen durch den Nationalsozialismus selbst verantwortlich? Und welche ihrer Ergebnisse sind aus heutiger Sicht trotz allem von wissenschaftlichem Interesse?  
Regimekonform trotz keiner zentraler Vorgaben
Im Unterschied zu Forschern in der Rüstungsindustrie oder in der Medizin gab es für die Völkerkundler im Dritten Reich keine zentralen Vorgaben. Quasi von selbst entwickelte sich eine Routine in der wissenschaftlichen Arbeit, die samt und sonders dem Regime geweiht war - in einigen Fällen jedoch nur nach außen hin.
Nahtloser Karriere-Übergang nach 1945
Umso schwieriger ist es, rückwirkend die Qualität und tatsächliche Ausrichtung der Arbeit der einzelnen Anthropologen und Völkerkundler jener Zeit zu beurteilen - zumal viele der handelnden Personen mehr oder weniger nahtlos nach 1945 weiter in ihren Fächern aktiv waren, meinte der Ethnologe, Kultur- und Sozialanthropologe Andre Gingrich im ORF-Radio.
Lange Zeit unkritisches Fachverständnis
"Ich denke, in der Völkerkunde war man lange allzu unkritisch, dachte oft, dass dieses Fach durch die NS-Herrschaft nicht besonders beeinträchtigt worden sei, und hat daher vieles weiter tradiert, das erst heute mit etwas anderen und viel kritischeren Augen gesehen wird", so Gingrich, der auch science.ORF.at-Host ist.

Trotzdem sei es notwendig, sich manche der Publikationen nicht nur von der kritischen Seite her anzusehen, sondern "durchaus zu verstehen, dass selbst unter fürchterlichen politischen Rahmenbedingungen der einzelne da oder dort versucht haben wird, das beste in seinem wissenschaftlichen Bereich zu leisten, was eben unter solchen Bedingungen möglich war, und hier vorsichtig und behutsam in Nachhinein die Spreu vom Weizen zu trennen."
Beispiel Walter Hirschberg ...
Da ist zum Beispiel Walter Hirschbergs "Hamiten"- Theorie zur ethnologischen Erklärung des Phänomens Afrika. Unter anderen Bezeichnungen ist diese an sich widerlegte Theorie der hellhäutigen berberischen und arabischen Nomaden, die angeblich in Völkerwanderungsmanier Afrika besiedelt und unterworfen hätten, noch heute zu finden - zumal in Afrika selbst.
... Thurnwaldt und Fürer-Haimendorf
Oder der weithin anerkannte Völkerpsychologe Richard Thurnwaldt, dessen Schüler die Massenvernichtung, den Holocaust mit vorbereiteten: Thurnwaldt war hingegen selbst ebenso wenig Nationalsozialist wie der 1939 nach Britisch- Indien ausgewanderte Wiener Indien- und Himalaya-Forscher Christoph von Fürer-Haimendorf, dessen Arbeit über "Weiße Kopfjäger" dennoch als Motivationsschrift an Soldaten der deutschen Wehrmacht verteilt wurde.
Beitrag zur Ethik in der Wissenschaft der Gegenwart
Den Ethnologen Andre Gingrich führt das zur entscheidenden Frage: Wie sehr sind Anthropologen damals wie heute dafür verantwortlich, wofür ihre Arbeit benutzt oder missbraucht wird?

"So bedenklich es damals war zu sagen: Ich bin ein reiner Wissenschaftler und die Politik interessiert mich nicht, so kann es auch - zugegebenermaßen mit weniger Gefahrenmomenten - unter demokratischen Verhältnissen notwendig sein, sich immer wieder zu fragen: Was könnte mit den Forschungen, die ich betreibe, passieren, bzw. was kann mir vorgeworfen werden, das ich im Zuge meiner Forschungen unterlasse."

Und gerade deshalb ist die differenzierte Aufarbeitung dieses Kapitels Wissenschaftsgeschichte auch ein wichtiger Beitrag zur Ethik in der Wissenschaft der Gegenwart.

Martin Haidinger, Ö1-Wissenschaft, 15.11.04
->   Autor-Sektion Andre Gingrich in science.ORF.at
->   Johns Hopkins-University
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010