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Umstrittene Kunst: Otto Mühl unter der "Gender-Lupe"  
  Der Wiener Aktionist Otto Mühl hat vor allem als Kommunengründer und verurteilter Sexualverbrecher Schlagzeilen gemacht. Viele seiner Werke gelten zudem als frauenfeindlich. Der Literaturwissenschaftler Thomas Nesbit, Junior Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, hat nun vor allem Mühls frühe aktionistische Werke unter die Lupe genommen - und revidiert dieses Urteil zumindest für eine kurze Phase im Schaffen des umstrittenen Künstlers.  
Otto Mühl und das Feminine

Von Thomas Nesbit

Leben und Werk von Otto Mühl sind in die Kritik geraten: Frauenfeindlichkeit und andere Verbrechen lautet der Vorwurf. Er scheint weitgehend berechtigt. Dennoch sollte man nicht der Versuchung erliegen, damit gleich sein gesamtes Werk zu verurteilen.

So schwierig es sein mag, seine Arbeiten aus den 1960er Jahren von seiner AA Kommune der 1970er zu trennen - unterzieht man seine frühen aktionistischen Stücke einer Neubetrachtung, so zeigt sich eine komplexe und offene Interaktion zwischen dem Künstler und dem Weiblichen.
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Seminar am IWM: Mittwoch, 17. November
Thomas Nesbit stellt seine Überlegungen zu Otto Mühl am 17. November 2004 um 14.30 Uhr in einem Junior Visiting Fellows' Seminar unter dem Titel "Gender and Violence in Wiener Aktionismus Documentation from the Mid-1960s" am IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien zur Diskussion.
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Frauen und Spiel in Mühls ersten Aktionen
Bild: APA
Maler und Aktionist
Otto Mühl 1998
Auf den ersten Blick scheinen Mühls anfängliche Materialaktionen - wie etwa seine "Versumpfung eines Weiblichen Körpers - Versumpfung einer Venus" (1963) - Frauen zutiefst zu diskriminieren.

Doch wenn man die erhaltenen Dokumentationen zu diesen Stücken betrachtet, so kann man feststellen, dass diese Frauen lächeln. Obwohl noch unter Mühls Regie, bezeugen sie durch diese Geste ihren freien Willen und ihre Zustimmung.

Im Gegensatz zur orchestrierten Ernsthaftigkeit von Hermann Nitsch - hier entfalten sich die Aktionen in feierlichem Pathos - hat Mühl ein einzigartiges Konzept in den Aktionismus eingeführt, das häufig übersehen wird: das Spiel.
->   Die Otto-Muehl-Retrospektive 2004 im MAK (oe1.ORF.at)
->   Otto Mühl-Schau im MAK bricht alte Wunden auf (ORF.at)
Neudefinierung der "Koch-Kunst"
Mitte des Jahres 1964 entwickelte Mühl eine Art von Aktion, die das Konzept des Tafelbildes wörtlich nahm: Er schuf Kunstwerke, in denen Frauen auf einem Tisch platziert wurden und Nahrungsmittel spielerisch zum Einsatz kamen.

Durch diese Wende definierte Mühl gewissermaßen die "Koch-Kunst" neu - ein Schritt, der retrospektiv einer künstlerischen Revolution gleichkommt.
Radikale Ausweitung mittels Eiern und Co
Unter Verwendung von Mehl, Eiern, Brotkrumen und anderen Lebensmitteln als Werkzeugen des künstlerischen Ausdrucks erweiterte Mühl radikal den Bereich dessen, was als bildende Kunst galt.
Hinterfragung von Geschlechterrollen
Indem er die Rolle eines Kochs annahm, spielte er zugleich auch die Hausfrau - und hinterfragte damit die bestehenden Geschlechterrollen.

Während er weiterhin diverse Substanzen auf Frauen schüttete, begann Mühl auch ähnliche Aktionen mit sich selbst durchzuführen. Damit glich er das "Spielfeld" gleichsam aus.

Zusätzlich zu seiner Umkehrung traditioneller Konzepte von Gender auf seinem "Spielplatz" kann Mühls Arbeit auch als bewusste Kritik männlicher sexueller Ökonomie gelesen werden, in der Frauen als Objekte betrachtet werden, die konsumiert und anschließend entsorgt werden.
Eine neue Vision der Befreiung
Der Aktionismus als Kunstbewegung war durch das Streben nach Freiheit in jeder möglichen Form charakterisiert. Mühls Auseinandersetzung mit Weiblichkeit führte zu einer Darstellung von Freiheit, die sich merklich von dem unterscheidet, was man in den Arbeiten anderer Aktionisten findet.

Verkleidung und Spiel sind mit gewalttätigen Handlungen zusammengeschlossen. Befreiung wird durch eine hermaphroditische Vereinigung von männlichen und weiblichen Zonen erreicht - und ermöglicht eine unendlichen Zahl von Gender-Konfigurationen.
Die Institutionalisierung von Mühls Kunst
Unglücklicherweise schloss Mühl die Türen, die er geöffnet hatte, nach kurzer Zeit. Es scheint, er war weder persönlich noch künstlerisch in der Lage, die Freiheit, die er erfahren hatte, zu bewahren.

In den folgenden Jahren wurde seine Kunst zunehmend institutionalisiert - am berüchtigtsten in seiner AA Kommune, in der die Geschlechterrollen und -hierarchie - entgegen dem emanzipatorischen Anspruch der Kommune - zu Ungunsten der Frauen neu installiert wurden.

Dennoch inspirierten Mühls revolutionäre frühe Aktionen Künstlerinnen wie Carolee Schneemann und das, was dann als feministische Performance-Kunst bekannt wurde - eine Bewegung, die danach strebt, Frauen von realen Zwängen zu befreien.
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Informationen zum Autor:
Thomas Nesbit ist Doktorand in Religion und Literatur an der Boston University. Seine Dissertation über Henry Miller, "Rivers of Ecstasy: Henry Miller's Affair with Religion", will zeigen, dass Miller im Kern ein religiöser Schriftsteller ist, und interpretiert seine autobiographischen Texte als Testamente und Bekenntnisse.

Als Junior Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien untersucht Nesbitt den Wiener Aktionismus. Seine Forschungen sind Teil einer größeren Studie zu Versuchen männlicher Kunst und Literatur, sich mit dem Weiblichen auseinanderzusetzen.
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->   Mehr zum Stichwort Gender in science.ORF.at
->   Pressestimmen zur Otto-Muehl-Retrospektive (oe1.ORF.at)
->   Otto Mühl im Interview mit der "Zeit" (26.2.04)
 
 
 
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01.01.2010