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Habermas: Und den freien Willen gibt es doch  
  Ist "Freiheit nur eine Illusion", wie es manche Neurowissenschaftler formuliert haben? Und der menschliche Willen bloßes Produkt physiologischer Prozesse? Die seit geraumer Zeit in den deutschen Feuilletons laufende Debatte um die "Naturalisierung des Geistes" rief nun auch Jürgen Habermas auf den Plan. In Kyoto hielt er vor kurzem eine Rede, in der er energisch gegen Neuro-Determinismen und für einen "Perspektivendualismus" argumentierte.  
Diskurs kein blindes Naturgeschehen
Diskursgeschehen - also die Kommunikation der Menschen - ist kein blindes "Naturgeschehen", das quasi hinter dem Rücken des Subjekts abläuft, meinte der deutsche Philosoph in Japan anlässlich der Verleihung des Kyoto-Preises - eine der höchsten Auszeichnungen für Verdienste um Wissenschaft und Kultur weltweit.

In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)" wurde diese Woche ein Essay abgedruckt, dem diese Rede zugrunde liegt.
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Der Artikel "Um uns als Selbsttäuscher zu entlarven, bedarf es mehr" von Jürgen Habermas ist in der "FAZ" am 15. November 2004 erschienen.
->   "FAZ"
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Mentale vs. kausale Verursachung
Der Ausgangspunkt der Diskussion laut Habermas: Willensfreiheit des Menschen - begriffen als "mentale Verursachung", die Motivation durch Gründe - wird durch die Erklärungsansprüche der Neurowissenschaften zum "Schein, hinter dem sich eine durchgängige kausale Verknüpfung neuronaler Zustände nach Naturgesetzen verbirgt".

Ein Determinismus, der schon unserer Alltagserfahrung widerspricht, in der wir permanent vor Entscheidungen gestellt sind. Allerdings: Widerspruch mit dem Common Sense allein sei natürlich noch kein Beweis gegen eine naturwissenschaftliche Theorie, so Habermas.
Gegen spekulative Deutung von Natur-Erkenntnis
Das Ziel seines Essays in der "FAZ": Zu hinterfragen, ob es sich bei der deterministischen Auffassung tatsächlich um eine naturwissenschaftlich begründete These handelt oder vielmehr nur um einen "Teil eines naturalistischen Weltbilds, das sich einer spekulativen Deutung naturwissenschaftlicher Erkenntnis verdankt".

Und: einen Dualismus von Erklärungen anzubieten, der sowohl der bewussten Rationalität - dem Gebiet der Willensfreiheit - als auch naturwissenschaftlicher Erkenntnis gerecht wird. Um das Ziel zu erreichen, greift er auf eine Reihe von Argumenten zurück. Hier nur eine Auswahl.
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Am 11. November 2004 nahm Jürgen Habermas den Kyoto-Preis in Japan entgegen. Heuer war der Preis mit umgerechnet 364.000 Euro dotiert.
->   Jürgen Habermas nahm Kyoto-Preis entgegen (11.11.04)
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Bewusstsein wird zum Epiphänomen
Wer menschliches Bewusstsein auf das Ablaufen neurologischer Prozesse - auf die wechselseitigen kausalen Einwirkungen zwischen Gehirn und Umwelt - reduziert, zahlt einen "hohen Preis", so Habermas: Es wird dann zum bloßen - untergeordneten - Epiphänomen.

Gründe etwa - das, woraus sich Subjekte ihre Handlungen erklären - werden aus neurobiologischer Sicht "nachträglich rationalisierende, bloß mitlaufende Kommentare zum unbewusst verursachten und neurologisch erklärbaren Verhalten".
Bewusste Rationalität auch biologisch notwendig
Dann aber, so Habermas, bleibt - auch aus evolutionsbiologischer Sicht - rätselhaft, warum es überhaupt so etwas wie einen "Raum der Gründe" gibt. Wozu dann die "gegenseitigen Legitimationsanforderungen", warum dann Eltern und Gesellschaft, "die den Kindern eine kausal leer laufende Nötigung dieser Art andressieren"?

Offensichtlich, so Habermas, hat die bewusste Rationalität auch eine biologische Notwendigkeit für das Überleben des Organismus. Neurologischer Reduktionismus verfahre dem gegenüber "nicht weniger dogmatisch, als der Idealismus, der in allen Naturprozessen auch die begründende Kraft des Geistes am Werke sieht".
Plädoyer für Perspektivendualismus
Habermas plädiert deshalb für einen Perspektivendualismus, der Geistigem und Physischem gerecht wird. Dieser Dualismus "muss aus einem evolutionären Lernprozess hervorgegangen sein und sich in der kognitiven Auseinandersetzung von Homo sapiens mit den Herausforderungen einer riskanten Umwelt schon bewährt haben."

Diese "Versöhnung von Kant und Darwin" hat eine eminent anthropologische Komponente: Die Hilfsbedürfigkeit "organisch unfertiger" Neugeborener mache den Menschen vom ersten Augenblick an abhängig von sozialen Interaktionen.
Menschliche Kognition immer vergesellschaftet
Menschen, so Habermas im Anschluss an den Anthropologen Michael Tomasello, bauen im Gegensatz zu Primaten bereits mit neun Monaten "intersubjektive Gemeinschaften" auf. D.h. sie erkennen im Anderen ihr Alter Ego - intentional handelnde Akteure - und richten gemeinsam mit ihnen ihre Aufmerksamkeit auf dieselben Objekte.

Diese gemeinsame Perspektive sei "konstitutiv für den objektivierenden Blick auf die Welt und auf sich selbst". Menschen lernen durch Kooperation, ihr Wissen ist immer vergesellschaftet - "ohne Intersubjektivität des Verstehens keine Objektivität des Wissens", so Habermas.
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Philosoph der Kommunikation
Im Mittelpunkt der Philosophie von Jürgen Habermas steht die menschliche Kommunikation. Für ihn, der zu den wichtigsten Philosophen der Gegenwart zählt, ist die rationale Verständigung Voraussetzung für eine aufgeklärte Gesellschaft. Ziel ist eine Kommunikationsgemeinschaft, in der nur das zwanglose Argument bestimmend ist. Am 18. Juni 2004 feierte er seinen 75. Geburtstag.
->   Zum 75. Geburtstag von Jürgen Habermas (17.6.04)
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Determinismus und Kultur zusammen denken
Noch das objektivste Wissen hat aber Schwierigkeiten Willensfreiheit oder "mentale Verursachung" (im Unterschied zu kausaler Verursachung) zu verstehen.

Unser Kognitionsapparat hat damit Schwierigkeiten, den Determinismus neuronaler Erregungszustände und kulturelle Programmierungen - die subjektiv empfundene Motivation durch Gründe - zusammen zu denken. Kantianisch ausgedrückt: die Wechselwirkung von Kausalität der Natur und Kausalität aus Freiheit zu verstehen.
Geist: Immer verkörpert in Symbolsystemen
Nicht sinnvoll für dieses Unterfangen sei es, Geist als Substanz anzusetzen. Geist verkörpere sich vielmehr immer in Symbolsystemen - allen voran in der Sprache.

Diese Zeichensysteme ("objektiver Geist") sind - in einem "evolutionären Schub" - aus der Interaktion von Gehirnen intelligenter Tiere hervorgegangen und reproduzieren sich ausschließlich über gesellschaftliche Praktiken.
Ich: Soziale Konstruktion, aber keine Illusion
Das individuelle Gehirn erwirbt den Anschluss an Gesellschaft und Kultur auf "ontogenetischem Wege", das kollektive Wissen ist in den Zeichensystemen vermittelt. Im Ich-Bewusstsein reflektiert sich dieser Anschluss an die kulturellen Programme.

"Wohl", so schließt Habermas, "lässt sich das Ich als eine soziale Konstruktion verstehen. Deswegen ist es aber noch lange keine Illusion."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 19.11.04
Mehr zu Jürgen Habermas in science.ORF.at:
->   "Gespaltener Westen": Habermas setzt auf Europa (14.6.04)
->   Zur Aktualität der Religionsphilosophie Kants (5.3.04)
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01.01.2010