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Ist die amerikanische Gesellschaft kulturlos?  
  Aktuelle Wahlergebnisse haben neuerlich in Erinnerung gerufen, wie schwer es aus europäischer Perspektive oft fällt, die amerikanische Gesellschaft und Kultur zu verstehen. Dieses Unverständnis hat eine lange Geschichte. Winfried Fluck, Professor für amerikanische Kultur und derzeit Gast am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, zeichnet diese Geschichte in einem Gastbeitrag nach.  
Theorien amerikanischer Kulturen

Von Winfried Fluck

Von den Anfängen der USA bis heute dominiert die These von der vermeintlichen "Kulturlosigkeit" der amerikanischen Gesellschaft.

Europäische Beobachter haben sie immer wieder süffisant vorgetragen und Amerikaner haben sie oft selbst verinnerlicht.
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Vortrag am IFK
Winfried Fluck spricht am Montag, 22. November 2004, um 18 Uhr c.t. zum Thema "Theorien amerikanischer Kultur". Der Vortrag findet am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschschaften, 1010 Wien, Reichsratsstraße 17 statt.
->   IFK
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Gegenstrategien und Gegenargumente
Die These von der Kulturlosigkeit der amerikanischen Gesellschaft musste mit der wachsenden Weltmachtrolle der USA zunehmend zu einem Problem werden, weil sie potenziell deren Führungsanspruch relativierte.

Mit Fulbright-Programmen, Amerikahäusern, Institutionen wie dem Salzburg Seminar in American Studies und der Forderung nach einer Etablierung von amerikanistischen Lehrstühlen oder gar Instituten versuchte man mit einer Art kulturellem Reeducation-Programm der These von der Kulturlosigkeit entgegen zu wirken.
Demokratische Kultur oder moderne Kultur?
Um dem Eindruck einer Inferiorität der amerikanischen Kultur zu begegnen, wurden insbesondere zwei Argumentationslinien verfolgt: das Demokratieargument und das Modernitätsargument.

Dass die amerikanische Kultur nach den Standards europäischer Hochkultur als inferior erscheint, wäre dann darauf zurück zu führen, dass sie spezifisch demokratische Formen ausgebildet hat oder dass sie von besonders radikaler Modernität ist.
Modernitätsargument setzte sich durch
Für diese Argumentation haben einerseits Theorien amerikanischer Kultur von Constance Rourke (American Humor; The Roots of American Culture) und John Kouwenhoven (The Beer Can By the Highway), andererseits von D.H. Lawrence (Studies in Classic American Literature) und der Ansatz der so genannten Myth and Symbol School den Weg bereitet.

In einer Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die Massendemokratie von der Kulturkritik als Ort eines konformistischen Anpassungsdrucks angesehen wurde, setzte sich dabei schließlich das Modernitätsargument durch.
Multikulturelle Pluralität
Das Modernitätsargument wurde allerdings in den 70er Jahren und danach zunehmend kritisiert, weil es noch von der Annahme eines exzeptionellen amerikanischen Wesens ausging, das in der Kultur seinen Ausdruck finde.

Stattdessen wurde nun die multikulturelle Pluralität der amerikanischen Kultur betont, die sich jeder nationalen Homogenisierung und Verallgemeinerung entziehe.
Verfassungs- und Bürgerrechtstraditionen
Die Frage, die dann entsteht, ist allerdings die, wie angesichts dieser Differenz doch noch ein gesellschaftlicher Zusammenhalt möglich ist. Auch ethnische Gruppen sind nicht nur einfach "different", auch sie berufen sich auf einen Kern kulturspezifischer Wertvorstellungen, etwa wenn sie einen Anspruch auf Gleichberechtigung erheben.

Verfassungs- und Bürgerrechtstraditionen, eine nationale und globale Populärkultur und andere Phänomene haben zusammen mit anderen Faktoren dazu beigetragen, dass die amerikanische Kultur bei aller Vielfalt dennoch auch durch gemeinsame Entwicklungsbedingungen gekennzeichnet ist.
Tocqueville: Ideal der sozialen Gleichwertigkeit
Die ungebrochene Aktualität von Tocquevilles klassischer Studie "Über die Demokratie in Amerika" liegt unter anderem darin, dass er einer dieser gemeinsamen Entwicklungsbedingungen besondere Aufmerksamkeit schenkt: der Gleichheit.

Damit ist keine ökonomische Gleichheit gemeint, die es in den USA nie gegeben hat, sondern das Prinzip einer sozialen Gleichrangigkeit, aus der sich ein kulturelles Ideal der Gleichwertigkeit ergibt.
Suche nach Anerkennung: Motor der US-Demokratie
Niemand darf den Anspruch erheben, mehr wert zu sein, als andere; jeder steht dann allerdings auch vor dem Problem, seinen eigenen Wert anderen gegenüber zu beweisen. Die daraus resultierende rastlose Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung ist für Tocqueville der entscheidende Motor der amerikanischen Demokratie und Kultur.

Sie führt zu einer Kultur der Performanz, aber vermag auch auf die zentrale Rolle der Religion in der amerikanischen Kultur ein völlig neues Licht zu werfen - und damit auch auf die neuesten Wahlergebnisse.

[22.11.04]
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Über den Autor
Winfried Fluck ist Professor für amerikanische Kultur am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der Freien Universität Berlin. Professor an der Universität Konstanz, Gastprofessuren an der Universidad Autonoma, Barcelona, an der Princeton University und an der University of California, Irvine, Fellow am National Humanities Center in den USA und am Bellagio Studies Center der Rockefeller Foundation.

2004/2005 IFK_Gast des Direktors mit dem Projekt "Cultural Studies: USA".
->   Website Winfried Fluck
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01.01.2010