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Selbstinszenierung als Kultur: Wie führen wir uns auf?  
  Die Frage nach dem "Aufführungscharakter von sozialen Handlungen" - die so genannte "Performativität" - ist für die Wissenschaft ebenso relevant wie für die Gesellschaft. Rituale und Inszenierungen bestimmen etwa die Wahrnehmung des Politischen. Skandale und Tabubrüche werden im Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit strategisch platziert. Letztlich sollte mit dem Begriff auch gefragt werden, was mit jenen Akteuren passiert, die weder über die materiellen noch über die symbolischen Ressourcen verfügen, sich wirkungsvoll in Szene zu setzen, meinen der Kulturwissenschaftler Lutz Musner und die Historikerin Heidemarie Uhl in einem Gastbeitrag.  
Performanz/Performativität in Kultur- und Sozialstudien
Von Lutz Musner und Heidemarie Uhl

Wenn man die Kategorie des Performativen "übersetzt" als Frage nach den Erscheinungsformen der "sozialen Wirklichkeit" in unterschiedlichen gesellschaftlichen Praxisfeldern wie Kunst, Politik, Ökonomie, Medien, dann kann auch die Wissenschaft davon nicht ausgenommen werden.

Von der Kategorie des Performativen zu sprechen, würde dann zunächst auch heißen, zu deklarieren, warum der Diskussion dieses Begriffs die "Bühne", der performative Rahmen einer Tagung, gegeben wird, also: das Interesse an diesem Konzept offen zu legen.
Hohe Resonanz und gesellschaftliche Wirksamkeit
Zwei Beobachtungen waren dafür ausschlaggebend: erstens die Resonanz, die der Begriff in den letzten Jahren erfahren hat. Fragestellungen nach dem "Aufführungscharakter" von sozialen Handlungen oder nach den "performativen Rahmungen" der Symbol- und der Wissensproduktion und dem dadurch verliehenen Grad an Evidenz zeigen an, dass Performativität über den Bereich der Theaterwissenschaften hinaus zu einem relevanten methodisch-theoretischen Konzept der Kulturwissenschaften geworden ist.

Die Kategorie des Performativen hat auch ihre gesellschaftliche Wirksamkeit entfaltet: Die mittlerweile favorisierte Sicht von sozialen Handlungsformen als performativen Akten bezeichnet nicht mehr allein eine Perspektive wissenschaftlicher Analysen, sondern scheint zunehmend als Handlungsanleitung für gesellschaftliche Praxisformen in unterschiedlichen Feldern an Bedeutung zu gewinnen.
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Die Tagung "Wie wir uns aufführen. Performanz/Performativität im Spannungsfeld von Kultur- und Sozialstudien" des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften findet von 25. bis 27. November im Theatersaal der ÖAW (Sonnenfelsgasse 19, 1010 Wien) statt.
->   Detailprogramm und Abstracts beim IFK
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Parteien setzen auf mediale Performanz
Parteien etwa unterscheiden sich weniger durch Ideologien als durch ihre Branding-Strategien, Wahlkämpfe werden nicht mehr als ideologische Konkurrenz oder als Aufgreifen gesellschaftlicher Interessen gestaltet, sondern entsprechend den Logiken medialer Performanz.

Wenn von Performanz/Performativität als neuem Leitbegriff in den Kulturwissenschaften gesprochen werden kann, dann nicht - oder nicht nur - deswegen, weil die Suche nach "dem Neuen", nach dem nächsten "turn" und dessen Platzierung auch in den Wissenschaften eine zentrale Strategie im Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit geworden ist.
Vielfache Bedeutung von Performanz
Dem Begriff scheint ein Versprechen innezuwohnen: Performanz/Performativität ist ein vager, vieldeutiger umbrella term, der ganz unterschiedliche Dimensionen des "Aufführens", des "staging", des "auf die Bühne Bringens" umfassen kann.

Auf welchen Dimensionen des vieldeutigen, disziplinär unterschiedlich verfassten Performanzbegriffs beruht nun seine Resonanz als ein transdisziplinärer Leitbegriff der Kulturwissenschaften?
Wirkung durch öffentliche Kommunikation
Der Versuch einer vorläufigen Antwort: Die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit bedarf, so die Ausgangsthese, der performing acts, um die Bühne der öffentlichen Kommunikation zu bespielen und damit Wirkungsmächtigkeit zu erlangen.

Die performativen Rahmungen, die die Formate der medialen Öffentlichkeit generieren - von TV-Nachrichten über soap operas bis hin den Gesellschaftsspalten der Boulevardpresse - bilden das strukturelle Rahmenwerk für die Agenda-prägende Funktion der Medien.
Klammer zwischen Diskursen und Wahrnehmungen
Rituale und Inszenierungen bestimmen die Wahrnehmung des Politischen und Skandale und Tabubrüche werden in der Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit strategisch platziert.

Performative Akte scheinen so eine Klammer zwischen Diskursen und Wahrnehmungen, Wertsetzungen und sozialen Handlungen zu bilden - Performativität scheint jenes Bindeglied zu sein, das das Kulturelle als die andere Seite des Sozialen ausweist.
Handeln mit und durch Kultur
Wenn man unter "Kultur" auch die Art und Weise versteht, wie sich Menschen zu jenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kraftfeldern verhalten, in die sie hineingeboren werden, die sie ertragen und in die sie eingreifen, um sich zu behaupten, so wird offensichtlich, dass Kultur nicht nur eine Summe von Beobachtungs- und Decodierungsleistungen, sondern ebenso eine Summe von Handlungsleistungen einschließt.

Wir handeln mit und durch Kultur und wir verwenden ihre Artikulationsformen und Chiffren, um uns die Umwelt anzueignen, um uns ihr gegenüber zu positionieren und unsere Ziele zu realisieren.

Die Frage ist freilich, ob die Fokussierung auf "culture as performance" das Symbolische am Sozialen nicht zu sehr auf eine Phänomenologie der Rituale und eine Ökonomie der Aufmerksamkeit einschränkt.
Inszenierung trotz fehlender Ressourcen?
Wenn man Kultur als die andere Seite des Sozialen konzeptualisiert und ihre Dimension als ein situiertes und gerahmtes Sichverhalten zur Umwelt stark macht, so wäre zum Thema zu machen, was mit jenen Akteuren und Gruppen passiert, die weder über die materiellen noch über die symbolischen Ressourcen verfügen, sich wirkungsvoll in Szene zu setzen und dadurch Beachtung zu kapitalisieren.

Weiters wäre zu thematisieren, was mit jenen geschieht, die "nur" konsumieren, da ihre Konsumgüter zur Selbstdarstellung nichts hergeben bzw. sie gar als Verlierer der Statusökonomie ausweisen würden.

Verliert ein performanztheoretischer Zugang nicht die kulturellen Signaturen jener sozialen Gruppen aus dem Blickfeld, die entweder in der begrifflichen Blackbox des passiven Konsumenten verschwinden oder aber gar nicht die Mittel und die Energie zur Verfügung haben, sich Aufmerksamkeit verschaffen zu können?
Frage nach analytischer Leistungsfähigkeit und Ausschließungen
Den Begriff der Performanz zu befragen, heißt also, sowohl seine analytische Leistungsfähigkeit und Reichweite zu diskutieren - was wird durch diese Perspektive sichtbar gemacht, welche Dimensionen des Sozialen werden damit beleuchtet?

Gleichzeitig muss man auch fragen, welche Bereiche in den Hintergrund treten bzw. ausgeblendet werden - welche sozialen Gruppen und Interessen werden mit medialer bzw. öffentlicher Aufmerksamkeit bedacht, können die Bühne der Öffentlichkeit betreten und welche sind davon ausgeschlossen?

[24.11.2004]
->   ÖAW-Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte
->   Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften
->   Sonderforschungsbereich "Kulturen des Performativen" (FU Berlin)
 
 
 
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01.01.2010