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Anthropologie zur NS-Zeit: Vermessungen aufgearbeitet  
  Wissenschaftliche "Objektivität" ist keine fixe Kategorie, sondern wird auch von zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen geprägt. So lautet ein zentrales Ergebnis einer nun abgeschlossenen Forschungsarbeit der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien. Im Rahmen dieser Arbeit wurden die Schicksale von 440 im September 1939 als Forschungsobjekte missbrauchten Juden dokumentiert und analysiert.  
Untersuchung sollte "rassische Andersartigkeit" belegen
Bild: FWF/Maria Teschler-Nicola
Wie das vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Projekt aufzeigt, sollte die damals durchgeführte anthropologische Untersuchung den Nachweis der "rassischen Andersartigkeit" von Juden belegen. Es trage damit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte bei, heißt es in einer Aussendung.

Teile der Dokumente wie Gesichtsmasken und Vermessungsbögen werden derzeit auch im Holocaust Memorial Museum in Washington im Rahmen der Ausstellung "Deadly Medicine" gezeigt.

Bild rechts: Gershon Evan, ein Überlebender, hält die im Jahr 1939 von ihm genommene Gesichtsmaske.
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Rassismus wurde Ideologie der Machthaber
Die Vorstellung der "rassischen" Andersartigkeit der Juden war in der Anthropologie bereits vor der nationalsozialistischen (NS) Herrschaft weit verbreitet. Jedoch erst mit dem Aufkommen des totalitären NS-Regimes wurde diese Vorstellung von der Ideologie der Machthaber gefördert.

In einer jetzt abgeschlossenen Arbeit unter der Leitung der Anthropologin Maria Teschler-Nicola und des Historikers Karl Stuhlpfarrer wurde daher die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und NS-Ideologie in Österreich anhand der damaligen Forschungsaktivitäten der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien untersucht. Dazu wurden unveröffentlichte Archivbestände über die Forschung an inhaftierten Juden aufgearbeitet und analysiert.
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Degradierung von Menschen zu Forschungsobjekten
Die Projektmitarbeiterinnen Margit Berner, Verena Pawlowsky und Claudia Spring befassten sich schwerpunktmäßig mit dem Schicksal von 440 als staatenlos erklärten männlichen Juden, die im September des Jahres 1939 im Wiener Stadion inhaftiert worden waren.

Bekannt war, dass diese in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurden und zu den ersten Opfern des systematischen Massenmordes des NS-Regimes zählen - nicht jedoch deren Degradierung zu anthropologischen Forschungsobjekten.
Inhaftierte genau vermessen
Wie das Projektteam belegt, wurden diese Juden noch im Wiener Stadion im Detail untersucht. Für diese Untersuchung erhob Josef Wastl, damaliger Leiter der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien, gemeinsam mit einer achtköpfigen Kommission Daten zu den individuellen Biografien, vermaß Wuchs und Körperbau, nahm Haarproben und erstellte Gesichtsmasken sowie Fotos von vielen der Inhaftierten.

Zwar begannen Wastl und seine Mitarbeiter unmittelbar mit der statistischen Auswertung des umfangreichen Datenmaterials - die Arbeiten abzuschließen und zu veröffentlichen gelang ihnen jedoch nicht mehr.
Teil der Individualität zurückgeben
Der Datenbestand blieb dem Naturhistorischen Museum Wien aber bis heute erhalten - und damit auch die Verantwortung, sich mit dieser Vergangenheit auseinander zu setzen.

Eine Verantwortung, der sich die Projektmitarbeiterinnen nun auch noch aus einem ganz anderen Grund als dem kritisch-wissenschaftlichen Interesse stellten: "Diese Menschen wurden zu Forschungsobjekten herabgewürdigt.

Mit unserer Arbeit haben wir uns daher auch bemüht, soweit dies möglich ist, ihnen einen Teil ihrer Individualität und damit Würde zurückzugeben", führt die Anthropologin Margit Berner aus, die gemeinsam mit der Historikerin Claudia Spring dem Schicksal der Inhaftierten nachgegangen war.
Kontakt mit Überlebenden und Hinterbliebenen
Dazu wurden Kontakte mit Überlebenden und hinterbliebenen Familienmitgliedern aufgenommen, und tatsächlich konnten zwei Männer ausfindig gemacht werden, die als 16-jährige noch von Josef Wastl vermessen wurden.

Einer von ihnen lebt wieder in Wien, der zweite kam auf Einladung des Naturhistorischen Museums Wien, der Stadt Wien und des Jewish Welcome Service im Mai 2003 nach Wien auf Besuch.

Zusätzlich wurden 20 hinterbliebene Familienmitglieder kontaktiert, die auf Wunsch über die ihre Angehörigen betreffenden Ergebnisse des Forschungsprojektes informiert wurden. Dazu zählte auch die Übergabe von Kopien der verbliebenen Dokumente und - zumeist letzten - Fotos.
Selbstverständnis der Wissenschaften hinterfragt
"Es ist nicht nur für die Zeitgeschichte wichtig, dass wir wissen und verstehen, was mit diesen Menschen damals passiert ist", wird die Anthropologin Margit Berner in der Aussendung zitiert.

"Auch für die Geschichte und das Selbstverständnis der Anthropologie ist es von Bedeutung zu erkennen, wie politische Strömungen die inhaltliche Ausrichtung einer Wissenschaft prägen."

[science.ORF.at, 13.12.04]
->   Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF)
->   Abteilung für Anthropologie am Naturhistorischen Museum Wien
->   Ausstellung "Deadly Medicine" (Holocaust Memorial Museum)
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01.01.2010