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Die Couchs der Psychoanalyse  
  Sigmund Freuds orientalische Couch mit dem grünen Sessel daneben - ein klassisches Bild. Mit welchem Mobiliar aber betreiben Psychoanalytiker heute ihre Praxis? Ein aktueller Bildband liefert vielfältige, zum Teil überraschende Antworten - und begeht im orthodoxen Sinne der Analyse einen Tabubruch.  

Die Psychologin, Autorin und Fotografin Claudia Guderian hat die Inneneinrichtung von insgesamt 70 Psychoanalytikern und Psychoanalytikerinnen innerhalb und außerhalb Europas porträtiert.

Mit ihrem Buch bringt sie nicht nur zum Vorschein, was sonst dem Analytiker und seinen Klienten vorbehalten ist. Sie liefert auch eine angewandte Kritik an der Ästhetik von Möbelkatalogen.
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Claudia Guderian: Magie der Couch. Bilder und Gespräche über Raum und Setting in der Psychonalyse, Verlag Kohlhammer 2004
->   Mehr über das Buch bei Kohlhammer
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Bislang Ungesehenes kommt zum Vorschein
 
Bild: Claudia Guderian

Der Klassiker: Freuds Behandlungsraum innerhalb des Studierzimmers im Erdgeschoß seines Hauses in London.

Dass Guderian im Sinne der Intimität der psychoanalytischen Situation - dem Vertrauensverhältnis zwischen Analytiker und Analysand - einen Tabubruch begangen hat, ist ihr klar. Und tatsächlich waren nicht alle von ihrem Vorhaben begeistert.

Die Analytikerin Ilse Grubrich-Simitis etwa bezeichnet sich in einem bilderlosen Kurzbeitrag zum Buch als "zur kleiner werdenden Minorität" gehörend, "die noch einen trennscharfen Sinn für die Bedeutung der Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit hat".

Dennoch geht Guderian vermutlich mit Recht davon aus, dass die Psychoanalyse das Erschrecken über das "bislang Ungesehene" überstehen wird.
Ästhetik des Voyeurs vorherrschend
 
Bild: Claudia Guderian

Gisela Groenewold hat für ihre Couch beim Trödler gleich zugegriffen. "Von der Form her sieht sie aus wie die Couch von Freud." (1980)

Der analytische Raum, so die These von Guderian, ist mehr als nur ein Raum, mehr als nur neutraler Behälter. Ihn abzubilden bedarf es einer eigenen Herangehensweise, einer eigenen Ästhetik.

Diese Ästhetik gilt es noch zu entwickeln. Denn die gesellschaftlich dominante sei die des Voyeurs. Sie ist "eine ins Präverbale, archaisch-Bildliche gedrängte Form oral-gieriger Enteignungswünsche", schreibt Guderian in ihrem Vorwort. Der Voyeur schaue nur, "um dem Betrachteten etwas wegzunehmen".
Möbelkataloge zeigen tote Räume
Diese Ästhetik dominiere in den Medien. Und auch Möbelkataloge werden mit dieser impliziten ästhetischen Theorie erstellt und vertrieben, die Möbel "so geformt, aufgebaut und fotografiert, dass sie einem weitgehend standardisierten Konsens über das, was 'schön' sei, entsprechen".

In Möbelkatalogen würden vor allem tote Räume in Szene gesetzt: Betten, in denen nie jemand geschlafen hat, Tische, von denen nie jemand gegessen hat etc.

Das harte Urteil von Guderian über Möbelkataloge: "Das Abbild eines Raumes dient dazu, ihn den oral-optisch vernichtenden Blicken einer gierigen Betrachtermeute auszusetzen."
Andere Ästhetik ohne Aneignung
 


Um den Arbeitsräumen der real existierenden Psychoanalytiker dieses Schicksal zu ersparen, plädiert Guderian für eine andere Ästhetik. Eine, für die ein Aquarell von Moritz von Hoffmann als Vorbild dienen kann (siehe oben).

Dieser malte das Arbeitszimmer des Germanisten Wilhelm Grimm kurz nach dessen Tod auf Geheiß seiner Verwandten. "Das Bewegende des Bildes ist das Detail", schreibt Guderian. Der Blick soll nichts aneignen, sondern die Harmonie aller im Raum befindlichen Elemente miterleben.

Das Bild von Hoffmann ist so "gedankliches Leitbild für die abgebildeten Praxisräume der Psychoanalyse" - und ihr Bildband dementsprechend "kein Handbuch für Innenausstatter".
Lang anhaltendes erstes Couch-Erlebnis
Wie viele Analytiker es weltweit gibt, ist schwer zu sagen - und hängt vor allem von der Definition ab, die man anwendet. Vermutlich sind es aber an die 50.000. Jeder und jede von ihnen, so die Vermutung Guderians, kann sich an jenen Tag erinnern, an dem man "seiner Couch" begegnet ist.

Mögliche Motive dieses Zusammentreffens: die "Errettung" eines speziellen Möbelstücks (etwa auf dem Sperrmüll oder am Flohmarkt), der Wunsch nach Individualität durch Beauftragung eines eigenen Stücks oder die Verwendung eines Familienerbstücks.
Schwierige Möbel-Klientel
Guderian zitiert u.a. den Inhaber eines Münchner Möbelgeschäfts, zu dessen Stammkunden Psychotherapeuten zählen und der sie als "schwierige Klientel" bezeichnet.

Ein anderer Möbelhändler geriet einmal mit einem Analytiker beim Probeliegen in einen heftigeren Wortwechsel - der Analytiker hatte danach einen Klienten mehr.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 10.12.04
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Bild: Claudia Guderian

Auffällig bei Ulrich Ehebald sind die vielen afrikanischen Skulpuren im Zimmer (1956). Doch "die Patienten sehen das gar nicht. Diejenigen, die das wahrnehmen und davon sprechen, die sind sehr gesund."
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Bild: Claudia Guderian

Die ersten Patienten von Thomas Truxa schreckten sich vor der roten Farbe der Couch, erschien es ihnen doch "zu bordellmäßig". Die dunklen Stellen sind "Spuren von Schweiß und Tränen, die nicht mehr abwaschbar sind." (1993)
... Beispiele
 


Raumbeherrschend bei Patrizia Giampieri-Deutsch ist ein vier mal fünf Meter großes Ölgemälde - ein Wald, der auf dem Kopf steht. Auch ein Foto ihrer Heimatstadt Triest ist zu sehen. (1992)
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Freuds Psychoanalyse: Vom Diwan zur Couch (3.3.04)
->   Verdrängung erstmals neurobiologisch bewiesen (8.1.04)
->   Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften (9.8.02)
 
 
 
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01.01.2010