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Alte Bräuche inspirieren High-Tech-Angebote  
  Wenn High-Tech-Unternehmen über neue Services oder Produkte nachdenken, konsultieren sie immer häufiger Anthropologen. Warum? Weil sie Wissen über menschliches Verhalten von den lokalen Umständen abstrahieren und auf neue Medien umlegen können. Auch in Österreich arbeitet ein Anthropologe an Produkten der Zukunft.  
Der britische Telekommunikationsriese Vodafone gehört zu den Pionieren der ungewöhnlichen Zusammenarbeit. Er hat mit anthropologischer Unterstützung ein Service entwickelt, das Postkarten mit MMS, der multimedialen Version der altmodischen SMS, verbindet. Das berichtet der "New Scientist" in seiner aktuellen Ausgabe.
Von den Trobriand Inseln zu Vodafone
Ausgangspunkt des neuen Services waren die Trobriand Inseln vor Papua Neuguinea: Schon 1912 berichtete der Anthropologe Bronislaw Malinowski davon, dass sich die Inselbewohner regelmäßig Armbänder und Halsketten aus Muscheln schenken.

Das Ungewöhnliche daran ist, dass sie die Geschenke nicht "bilateral" austauschen, also jeder Schenkende vom Beschenkten gleich wieder ein Präsent erhält. Statt dessen verläuft der Ritus kreisförmig: Jede der kleinen Inseln beschenkt die im Uhrzeigersinn nächstgelegene mit Halsketten, bekommt sie aber vom Nachbarn gegen den Uhrzeigersinn. Damit sollte der soziale Zusammenhalt gefestigt werden.
Altruismus auf interaktive Services übertragen
Diese Form des Altruismus könne man auf interaktive Services übertragen, dachte sich der Anthropologe Richard Harper und bot Vodafone eine Adaptation des Ritus in Form eines Postkarten-Service an: Man sendet ein MMS an Vodafone, das es als Postkarte ausdruckt und an den gewünschten Empfänger schickt.

Sowie die Ketten auf den Trobriand Inseln bleiben auch die Postkarten permanent erhalten und sollen soziale Bindungen stärken.
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Lange Geschichte
Dass Anthropologen an der Entwicklung von High-Tech-Geräten beteiligt sind, ist nichts Neues. Das bekannteste Beispiel stammt aus der Produktentwicklung von Xerox:

Als die Kopiergeräte immer unübersichtlicher wurden, kam die Anthropologin Lucy Suchman durch Feldforschungen in Firmen auf die Lösung: Der große grüne "Start"-Knopf war erfunden.
->   Website von Lucy Suchman (inkl. Liste mit Online-Papers)
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Anthropologie, die sich auch wirtschaftlich lohnt
Vodafone geht bei der angewandten Anthropologie nicht leer aus: Erstens müssen sich die Versender bei Vodafone registrieren, wodurch sie für Werbeaktionen speziell zum Thema UMTS greifbar werden. Und zweitens rechnet das Unternehmen damit, dass sich die Empfänger für die Karte erkenntlich zeigen möchten, sich deshalb ebenfalls registrieren und das Netzwerk wächst.

Der Austausch von "wertvolleren" Gütern wie Musik oder Videofiles könnte als nächstes kommen.
Österreich: Anthropologie für die Autoindustrie
Auch in Österreich arbeitet ein Anthropologe an High-Tech-Produkten: Klaus Atzwanger hat nach zehn Jahren im Dienst der Wissenschaft zu einer Beratungsfirma gewechselt.

Aktuell arbeitet er mit Unternehmen der Fahrzeugindustrie an den "Produkten der Zukunft" - also Angeboten rund um das Auto, die ab 2010 interessant sein könnten.

"Anthropologen können menschliches Verhalten besser abschätzen", erklärt Atzwanger im Gespräch mit science.ORF.at. In seiner Forschungsarbeit hat er sich intensiv mit biopsychischen Grundlagen und interkultureller Variabilität beschäftigt. Auf Basis dieses Grundlagenwissens könne er besser abschätzen, welche Innovationen angenommen oder abgelehnt werden.
Steigende Bedeutung vorausgesagt
Travis Breaux, Anthropologe und Computerwissenschaftler an der North Carolina State University, geht im Gespräch mit dem "New Scientist" davon aus, dass sich die Zusammenarbeit der beiden unterschiedlichen Felder noch verstärken wird. Ethnografische Methoden seien bereits bei der Entwicklung von "Friend-Finder"-Services wie "Friendster" oder bei Rollenspielen angewandt worden.

Breaux zum "New Scientist": "Je präsenter die Technologien in unserem Alltag werden, desto größer wird die Rolle der Anthropologie in ihrer Entwicklung sein."

Elke Ziegler, science.ORF.at, 17.12.04
->   New Scientist
->   Klaus Atzwanger (Institut für Anthropologie, Wien)
->   "Applicance Studio" von Richard Harper
->   Mehr zu Anthropologie im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010