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Mathematiker häkeln chaotischen Topflappen  
  Wessen Häkel- und Strickambitionen regelmäßig im Chaos enden, der befindet sich ab sofort in erlesener Gesellschaft. Denn zwei britische Mathematiker haben ihre Berechnungen im Bereich der Chaostheorie durchaus exzentrisch interpretiert: Sie fassten - einer plötzlichen Eingebung folgend - gewisse mathematische Visualisierungen am Bildschirm als Häkelanleitung auf und setzen das dann auch gleich in die Praxis um. Heraus kam ein gigantischer Topflappen, der unter Mathematikern zum beliebten Weihnachtsgeschenk avancieren könnte.  
Edward Lorenz' Wetterberechnungen
Die Vorgeschichte: Im Jahr 1960 versuchte der US-amerikanische Meteorologe Edward Lorenz vom MIT mit einem mathematischen Trick, die notorisch kurzsichtigen Wettervorhersagen seiner Kollegen zu verbessern.

Er vereinfachte die so genannten Navier-Stockes-Gleichungen, die Strömungen in Flüssigkeiten und Gasen (also etwa in der Atmosphäre) beschreiben, sodass ein System von nur drei Differentialgleichungen entstand.

Das klingt relativ einfach, und auch Lorenz war der Meinung, dass damit beispielsweise große Wirbelbildungen in der Atmosphäre langfristig vorhergesagt werden könnten.
Widersprüchliche Ergebnisse
Allerdings wurde seine Hoffnung enttäuscht: Er simulierte nämlich das Wetterverhalten mittels eines Computerprogramms und wiederholte einige Zeit später die Berechnung. Der zweite Versuch brachte aber völlig unterschiedliche Ergebnisse.

Der Grund hierfür war, dass er aus Bequemlichkeit die Eingangsgrößen nur bis zur dritten Stelle hinter dem Komma eingegeben hatte, während die erste Berechnung mit Zahlen bis zur sechsten Kommastelle durchgeführt worden war.
Geburt der Chaostheorie
In meteorologischer Hinsicht war Lorenz also gescheitert, aber das hatte auch sein Gutes: Denn die von ihm entdeckte Empfindlichkeit gegenüber den verwendeten numerischen Eingangsgrößen ist eine typische Eigenschaft chaotischer Systeme, die auch gerne als "Schmetterlingseffekt" bezeichnet wird.

Mit dieser Entdeckung wurde im Übrigen die Forschungsdisziplin der Chaostheorie geboren - und Lorenz gilt seitdem als einer ihrer Säulenheiligen.
->   Mehr zum Schmetterlingseffekt bei Wikipedia
Visualisierung von Chaos
Was das mit Häkeln zu tun hat? Zunächst nicht viel. Die beiden Mathematiker Hinke Osinga und Bernd Krauskopf von der Bristol University fütterten kürzlich einen Computer mit den Lorenz-Gleichungen um das chaotische Verhalten dieses Systems zu visualisieren. Heraus kam eine zweidimensionale Figur, die Mathematiker Lorenz-Mannigfaltigkeit nennen.
Eine Häkelanleitung - quod erat demonstrandum
Dieses Gebilde betrachteten sie monatelang als Animation am Bildschirm, und plötzlich schlossen sie messerscharf: Die Berechnungen sind doch nichts anderes als eine computergenerierte Häkelanleitung!
Chaotischer Topflappen mit 25.511 Schlaufen

H. Osinga, B. Krauskopf und die
Lorenz-Mannigfaltigkeit in der Topflappen-Version
Mag sein, dass diese Folgerung von der besonderen Sozialisierung der beiden Forscher abhängt (frühkindliche Häkelprägung, Mathematikstudium), jedenfalls setzten die beiden das Ganze auch gleich in die Tat um.

Nach 85 Arbeitsstunden und 25.511 Häkelschlaufen entstand ein topflappenartiges Gebilde, das in einem mutigen Crossover traditionelle Handarbeit mit der Ästhetik seltsamer Attraktoren verbindet.

Wer meint, das habe keinerlei akademische Relevanz, irrt. Die beiden haben ihre ungewöhnliche Häkelanleitung im Fachjournal "The Matematical Intelligencer" veröffentlicht.

Robert Czepel, science.ORF.at, 20.12.04
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Der Aufsatz "Crocheting the Lorenz Manifold" von Osinga, H. M. und Krauskopf, B. erschien in "The Mathematical Intelligencer" (Band 26, S. 25-37).
->   Zum Preprint des Artikels (pdf-file)
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->   Bristol University
 
 
 
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01.01.2010