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Dem Vergessen auf der Spur  
  Wenn Nervenzellen aktiv sind, werden sie bisweilen besonders "schwatzhaft" und bilden zusätzliche Kontaktstellen zu anderen Nervenzellen aus. Dieser Mechanismus gilt als ein wichtiger Bestandteil des Lernens. Deutsche Forscher haben nun erstmals den umgekehrten Vorgang im Mikroskop sichtbar gemacht: Nervenzellen können sich auch aktiv aus dem Gespräch mit ihren Kollegen heraushalten. Auf psychischer Ebene dürfte dieser Effekt mit dem Vergessen in Zusammenhang stehen.  
Wie ein Team um Tobias Bonhoeffer vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried berichtet, reagieren Nervenzellen im Zuge der so genannten Langzeitdepression mit der Rückbildung von Dornen, auf denen normalerweise Synapsen sitzen.
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Die Studie "Bidirectional Activity-Dependent Morphological Plasticity in Hippocampal Neurons" von U. Valentin Nägerl et al. erschien im Fachjournal "Neuron" (Band 44, S. 759-767, Ausgabe vom 2.12.04).
->   Zum Originalartikel
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Pulsierendes Konzert von 100 Milliarden Neuronen
Obwohl das Gehirn bei weitem nicht die Schnelligkeit eines Computers erreicht, ist es in seiner Lernfähigkeit und seinem Erinnerungsvermögen unübertroffen. Grundlage dafür ist die flexible Vernetzung der über 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns.

Neurowissenschaftler wissen schon lange, dass die Verschaltung der Nervenzellen untereinander nicht statisch ist, sondern an eine sich ständig ändernde Umwelt angepasst wird.
Dornen dienen der Kontaktnahme
Über 10 bis 100.000 Dornen - spezifische mikroskopische Auswüchse auf ihren Eingangsstrukturen - steht jede Nervenzelle mit anderen Nervenzellen in Kontakt.

Die Kontaktstellen, auch Synapsen genannt, können auf- und abgebaut sowie in ihrer Intensität verstärkt oder abgeschwächt werden. Diese Anpassungsfähigkeit des Zentralen Nervensystems wird Plastizität genannt.
Reizung verändert Form der Nervenzellen
 
Bild: U. Valentin Nägerl, Nicola B. Eberhorn, Sidney B. Cambridge, Tobias Bonhoeffer

1999 konnten Tobias Bonhoeffer und Kollegen erstmals mikroskopisch beobachten, wie Nervenzellen nach intensiver elektrischer Reizung, die im Experiment eine erhöhte Aktivität der Zellen simuliert, ihre Gestalt verändern und dabei dornenartige Strukturen bilden, so genannte "spines".

Bild: Intensive Stimulation führt zur Bildung von dornenartigen Ausstülpungen an Nervenzellen. Das linke Bild zeigt einen Ausschnitt aus den Dendriten einer Nervenzelle vor Stimulation; rechts der gleiche Ausschnitt nach 30-minütiger intensiver Stimulation. Die Bildung der Dornen ist durch die roten Pfeile gekennzeichnet.
"Langzeitpotenzierung": Plus für Datenübertragung
Wissenschaftler nehmen an, dass diese Dornen als Prozessoren am Aufbau weiterer Synapsen zu den benachbarten Nervenzellen beteiligt sind - sie regeln quasi den synaptischen Input einer Nervenzelle.

Bei hoher Reizfrequenz werden an den beteiligten Synapsen auf der Senderseite verstärkt Botenstoffe ausgeschüttet und auf Empfängerseite die entsprechenden Rezeptoren eingebaut.

Dadurch wird eine bessere Reiz- bzw. Informationsübertragung möglich - die Datenautobahn wird quasi vergrößert. Fachleute nennen das "Langzeitpotenzierung" oder kurz: LTP.
->   Long-term potentiation bei Wikipedia
Effekt kann über Wochen erhalten bleiben
Eine solche "Autobahn" kann über mehrere Stunden, Tage, ja sogar Wochen bestehen bleiben und ermöglicht so eine bessere Reaktion auf Folgereize.

Die Langzeitpotenzierung gilt als eine der zellulären Voraussetzungen für die Speicherung von Information im Zentralen Nervensystem und damit auch für die Plastizität des Gehirns.
Bislang kein Nachweis für gegenteiligen Effekt
Für den entgegengesetzten Effekt, die Verkleinerung oder das völlige Verschwinden der Dornen, fehlte bisher jeder Nachweis. In ihren neuesten Studien konnten Tobias Bonhoeffer und Mitarbeiter nun genau diese Rückbildung der Dornen im Zuge einer Stimulation mit niedriger Reizfrequenz beobachten.

Dies gelang anhand von Nervenzellen in Gewebekultur, die aus dem Hippocampus stammten, einer Hirnregion, die maßgeblich an Gedächtnisvorgängen beteiligt ist. Diese "Langzeitdepression", kurz LTD, führt normalerweise zu einer "Verengung der Datenautobahn" zwischen den Nervenzellen über Stunden oder Tage.
->   Mehr zum Hippocampus bei Wikipedia
Weniger ist manchmal mehr
 
Bild: U. Valentin Nägerl, Nicola B. Eberhorn, Sidney B. Cambridge, Tobias Bonhoeffer

Bild: Rückbildung von Dornen an Nervenzellen bei Langzeitdepression. Das linke Bild zeigt Dornen an Nervenzellen 60 Minuten vor der Stimulation mit niedriger Reizfrequenz. Im rechten Bild ist der gleiche Ausschnitt nach der Stimulation zu sehen. Die blauen Pfeile kennzeichnen die Stellen, an denen Dornen verschwinden (blau umrandete Pfeile).

Es zeigte sich also, dass Nervenzellen gewissermaßen zwei Grundrechenarten beherrschen: Sie können bei Bedarf Dornen hinzufügen, sie sind aber auch imstande, solche gegebenenfalls wieder zu entfernen.

[science.ORF.at, 20.12.04]
->   Max-Planck-Institut für Neurobiologie
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01.01.2010