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Ameisen betreiben "Gentechnologie"  
  Dass Ameisen im Zuge ihrer Arbeitsteilung unter anderem eine Vorform der Landwirtschaft entwickelt haben, ist bekannt. Neu ist die Erkenntnis, dass die Insekten sich auch gewissermaßen als Gentechnologen betätigen. Forscher aus den USA und der Schweiz konnten zeigen, dass Königinnen von Blattschneiderameisen für Vielfalt im Erbgut der Arbeiterinnen sorgen, indem sie sich gezielt mit Männchen fremder Nester paaren.  
Diese ungewöhnliche Strategie ist so weit fortgeschritten, dass auf diese Weise verbundene Insektenstaaten gar nicht mehr unabhängig existieren können.
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Die Studie "Loss of Phenotypic Plasticity Generates Genotype-Caste Association in Harvester Ants" von Sara Helms Cahan et al. erschien im Fachjournal "Current Biology" (Band 14, S. 2277-2282, Ausgabe vom 29.12.04; doi:10.1016/j.cub.2004.12.027).
->   Original-Abstract in "Current Biology"
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Ameisen - Pioniere der Staatenbildung
Millionen Jahre bevor der Mensch die Erde zu bevölkern begann, kannten die Ameisen bereits die Vorzüge des Staatswesens. Ihre bis 20 Millionen Mitglieder fassenden Insektenstaaten weisen Eigenschaften auf, die wir gemeinhin nur mit der menschlichen Kultur in Verbindung bringen:

So bedienen sich Ameisen einer ausgeprägten Arbeitsteilung, sie betreiben Landwirtschaft, ja sogar Sklavenhaltung kommt bei ihnen vor. Letzteres tritt bei einigen Arten auf, die in Nester fremder Ameisenvölker eindringen, deren Puppen rauben und diese dann im eigenen Nest arbeiten lassen.

Das geht mitunter so weit, dass manche räuberische Arten die Fähigkeit zur Selbstversorgung völlig verloren haben.
Prinzip Arbeitsteilung
Bild: Alex Wild
Myrmecocystus mexicanus
Was die Arbeitsteilung betrifft, kennt man etwa von den mexikanischen Honigtopfameisen ein hübsches Beispiel für hochgradige Spezialisierung:

Manche Arbeiterinnen dieser Art weisen einen extrem vergrößerten Kropf auf, in den ihre Artgenossinnen Honig füllen.

Dieses Behältnis kann auf ein so gigantisches Volumen anschwellen, so dass die Mitglieder dieser Kaste eigentlich nur mehr als lebende, unbewegliche Honigtöpfe fungieren.
->   Weitere Ameisenbilder bei myrmecos.net
Königinnen gehen fremd
Wie nun Arbeiten eines Forscherteams aus der Schweiz und den USA nahe legen, muss auch die Manipulation des Erbguts zu den "Kulturleistungen" der Ameisen gezählt werden.

Die Forscher um Sara Helms Cahan von der Universität Lausanne untersuchten zwei Arten der Ernteameisen (Gattung Pogonomyrmex), bei denen die Königinnen offenbar "fremd gehen".

Das heißt, sie paaren sich nicht nur mit Männchen des eigenen Nestes, sondern lassen sich auch von Drohnen des jeweils anderen Ameisenstaates beglücken.
Normalfall: Kastenbildung durch Umwelt induziert
Das ist insofern ungewöhnlich, als Fortpflanzung und Kastenbildung bei Ameisen an sich streng geregelt sind. Männchen entwickeln sich nämlich aus unbefruchteten Eiern, während Weibchen aus befruchteten Eiern (mit daher doppeltem Chromosomensatz) hervorgehen.

Ob sich letztere nun zu einer geschlechtslosen Arbeiterin oder zu einer Königin entwickeln, wird wiederum durch die Umweltbedingungen - etwa spezifische Signalstoffe - festgelegt. Anders ausgedrückt: Auch jede Arbeiterin hätte im Prinzip die genetischen Voraussetzungen, ein aristokratisches Leben an der Spitze des Staates zu führen.
->   Ant Castes (antnest.co.uk)
Königinnen als genetische Sonderlinge
Die von Cahan und Kollegen untersuchten Pogonomyrmex-Populationen weichen von dieser Regel ab. Bei ihnen unterscheiden sich Arbeiterinnen und Königinnen in genetischer Hinsicht.

Denn nur letztere stammen von einer reinen Erblinie ab, während sämtliche Arbeiterinnen aus Liebesnächten mit nestfremden Männchen hervorgegangen sind. Sie weisen daher ein hybrides Erbgut auf, ganz ähnlich, wie es etwa bei Maultier und Maulesel der Fall ist.
Kastenzuordnung genetisch bedingt
Das wirft natürlich folgende Frage auf: Wozu der Aufwand, wenn es auch einfacher ginge? Eine klare Antwort haben die Forscher darauf nicht parat, sie vermuten aber, dass die Hybridisierung eine positiven Einfluss auf das Wachstum und die Resistenz gegenüber Krankheiten hat.

Cahan und ihr Team konnten jedenfalls zeigen, dass die üblicherweise umweltbedingte Kastenzuordnung bei den untersuchten Ernteameisen durch ein genetisches System ersetzt wurde.
Extreme Anhängigkeit der Populationen
Das gelang, indem man die Königinnen am "Fremdgehen" hinderte und sie nur noch mit Männchen der eigenen Art paaren ließ. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Nur 17 Prozent der auf diese Weise befruchteten Eizellen entwickelten sich zu Arbeiterinnen. Zum Vergleich: Die Erfolgsrate der hybriden Fortpflanzung lag bei 87 Prozent.

Wie die Forscher in ihrer Arbeit schreiben, sind die beiden Populationen so stark von einander abhängig, so dass sie isoliert nur mehr unter Verlust des Kastensystems existieren könnten. Und eine Ameise ohne ein solches ist eigentlich gar keine Ameise mehr.

Robert Czepel, science.ORF.at, 29.12.04
->   Universität Lausanne
->   Ameisen bei Wikipedia
->   Das Stichwort Ameisen im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010