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Gehirnläsion macht blind für Furcht  
  US-Forscher berichten in einer aktuellen Studie von einer Patientin, deren Gefühlsleben infolge einer Schädigung des Gehirns eigenartige Ausfälle zeigt. Sie ist außerstande, Furcht in Gesichtern anderer Menschen zu erkennen. Offenbar deshalb, weil sie die Augenregion von Personen schlichtweg aus ihrem Gesichtsfeld ausblendet.  
Interessanterweise ist ihre Wahrnehmung anderer Emotionen keineswegs beeinträchtigt, wie ein Team um den Neurologen Antonio R. Damasio von der Iowa University herausgefunden hat.

Dies weist auf eine ganz spezielle Funktion der geschädigten Hirnregion - der so genannten Amygdala - hin.
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Die Studie "A mechanism for impaired fear recognition after amygdala damage" von Ralph Adolphs et al. erschien im Fachjournal "Nature" (Band 433, S.68-72, Ausgabe vom 6.1.05).
->   Zum Original-Abstract in Nature
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Gefühl und Verstand sind nicht getrennt

In seinem Buch "Descartes' Irrtum" argumentierte der bekannte US-amerikanische Hirnforscher Antonio R. Damasio, dass die alte abendländische Dichotomie von Vernunft und Emotion im Licht aktueller Forschungsergebnisse nicht aufrecht erhalten werden kann.

Damasios Erfahrungen mit Patienten zeigen, dass Schädigungen von mit Emotionen befassten Gehirnregionen nicht nur das Gefühlsleben stören, sondern auch zu einer maßgeblichen Beeinträchtigung des praktischen Verstandes führen.

Das Klischeebild des kühlen, rein rational agierenden Denkers ist also falsch: Vernunft und Gefühl werden im Gehirn nicht strikt getrennt, sie sind für ein reibungsloses Funktionieren vielmehr aufeinander angewiesen.
Bizarre Ausfälle
Ein interessantes Beispiel einer solchen Schädigung stellten Damasio und sein Team vor rund elf Jahren der Öffentlichkeit vor. In einer Studie in "Nature" berichteten die Forscher von der Patientin "SM", die an einer beidseitigen Läsion der Amygdala - auch Mandelkern genannt - leidet.

Diese neuronale Störung machte es ihr unmöglich, Furcht in Gesichtern zu erkennen. Der daraus gezogene Schluss, dass die Amygdala eine tragende Rolle in der Erkennung von Emotionen via Mimik spielt, konnte seitdem in mehreren Studien bestätigt werden.
->   Zum Abstract der Studie in "Nature"
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Amygdala
Die Amygdala, zu deutsch Mandelkern, liegt unterhalb des Riechzentrums der Hirnrinde und bildet zusammen mit dem so genannten Hippocampus das Zentrum des limbischen Systems, das u.a. mit der Regulierung von Emotionen betraut ist. Wird die Amygdala durch elektrische Reizungen künstlich stimuliert, löst das bei Mensch und Tier Gefühle der Furcht sowie des Unwillens aus, mitunter auch verteidigungs- oder angriffsartiges Verhalten.
->   Mehr zur Amygdala (Wikipedia)
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Blind für fremde Blicke
Bild: Nature
Wie die Forscher um Antonio Damasio nun in ihrer aktuellen Studie berichten, scheitert die Patientin SM nur an der via Mimik vermittelten Wahrnehmung von Furcht, weist aber bei allen anderen Emotionstypen kaum Beeinträchtigungen auf.

Das liegt offenbar daran, dass sie schlichtweg nicht imstande ist, die Augenregion von Gesichtern zu fixieren. Wie Versuche mit von Schreck erfüllten Gesichtern zeigten, pendelt der Blick normaler Versuchspersonen zwischen Augen und Mund (Bild links), während SM die Augenregion förmlich aus ihrem Gesichtsfeld ausblendete und ihren Blick meist über Mund- und vor allem Nasengegend schweifen ließ (Bild rechts).

Das weise darauf hin, dass Furcht stärker über Signale der Augenregion vermittelt werde, als andere Emotionen, so der Schluss der Forscher.
Läsion beeinträchtigt Aufmerksamkeit
Bild: Nature
Bei den Versuchen präsentierte Bildfolge
Weitere Versuche, bei denen den Probanden nur Ausschnitte von Gesichtern präsentiert wurden, bestätigten diese Deutung. SM war sehr wohl imstande, die Stimmung von Gesichtern anhand der Mundregion zu bestimmen, während Augen von ihr gewissermaßen als blinder Fleck behandelt wurden.

Überraschenderweise änderte sich die Situation, als SM von den Forschern aufgefordert wurde, die Augenregion bewusst zu betrachten: In diesem Fall erkannte die Patientin auch ängstliche Gesichter.

Wie Patrick Vuilleumier von der Genfer Universitätsklinik in einem Kommentar schreibt, weiß SM also im Prinzip sehr wohl, "wie Angst aussieht". Dies weise darauf hin, dass Läsionen der Amygdala weniger die Kategorisierung von Gesichtern beeinträchtigen, sondern eher zu einem Defizit an Aufmerksamkeit führen.

Die Amygdala dürfte also in aktivem Austausch mit dem Sehsinn stehen und diesen anweisen, was überhaupt wahrgenommen wird.
Hoffnung für Autisten?
Damasio und Mitarbeiter vermuten in ihrer Studie, dass die gewonnenen Erkenntnisse auch an Autismus leidenden Patienten zugute kommen könnten, weil bei dieser und ähnlichen Störungen ebenfalls Beeinträchtigungen der Gesichtererkennung sowie der Verarbeitung von Emotionen auftreten.

Robert Czepel, science.ORF.at, 7.1.05
->   Website von Antonio Damasio (Univ. Iowa)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Warum Furcht ansteckend ist (16.11.04)
->   "Pupillometer" zur Messung unwillkürlicher Reaktionen (10.8.04)
->   Negative Emotionen schwächen das Immunsystem (1.9.02)
 
 
 
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01.01.2010