News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Katastrophen im Wandel ihrer Deutungen  
  Naturkatastrophen wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts sehr unterschiedlich gedeutet. Standen zu Beginn religiöse und schicksalhafte Erklärungen im Mittelpunkt, wurden sie immer mehr als Katastrophen zu Lasten der Natur interpretiert - verursacht durch profitorientierte Menschen. Ein Schweizer Soziologe hat den Wandel dieser Deutungen im Spiegel der Medien anlässlich des Seebebens in Südostasien untersucht.  
Kurt Imhof, Leiter des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich, analysierte dafür Presseberichte aus dem 20. Jahrhundert der Deutschschweiz.

Sein in der "Neuen Zürcher Zeitung" vorgestellter Artikel enthält zwei Grundtendenzen: zum einen die Entwicklung von außerweltlichen zu innerweltlichen Erklärungen und zum anderen eine zunehmende Skandalisierung der Ereignisse durch die Medien.
...
Der Artikel "Die Karriere von Katastrophen" von Kurt Imhof ist in der "NZZ" am 7. Jänner erschienen.
->   Der Artikel in der "NZZ"
...
Unbeeinflussbarkeit führte zu religiösen Erklärungen
Katastrophen definiert Imhof als "unerwartete, schlagartige und äußerst schwerwiegende Vorgänge, deren Ablauf entweder nicht zu beeinflussen ist und/oder schon vollzogen ist". Gerade diese Unbeeinflussbarkeit habe historisch zu religiösen und transzendentalen Erklärungen geführt.

Der mit der Moderne einsetzende Rationalisierungs- und Säkularisierungsprozess habe andere Deutungen mit sich gebracht: Vorgänge der Natur konnten als Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge ohne Bezug auf göttliche Ursprünge - oder nicht selten: sündhaftes Handeln der Menschen - beschrieben werden.
Naturwissenschaftliche Sicht setzt langsam durch
Einen Übergang markiert etwa das Jahr 1910: Während bei einer Hochwasserkatastrophe in der Zentralschweiz noch religiöse Deutungen dominierten, wurde beim Absturz eines Zeppelins bereits sehr modern argumentiert. Der Start des Luftschiffs war gegen den ausdrücklichen Rat der Meteorologen erfolgt.

Auch bei der Hybris - der menschlichen Anmaßung gegenüber Gott oder der letztlich unberechenbaren Natur - klingen beide Motive durch. Paradigmatisch zu sehen etwa bei der Rezeption nach dem Untergang der "Titanic" 1912.
...
Soziokatastrophe statt Naturkatastrophe
Mitte des 20. Jahrhunderts sei ein "Katastrophenvakuum" zu beobachten, meint Imhof. Die "Soziokatastrophen Krise, Krieg und Kalter Krieg" hätten die "klassische Naturkatastrophe" verdrängt.
...
Mensch wird Katastrophe für die Natur ...
Spätestens in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts habe sich diese Interpretation gewandelt, so Imhof. Nicht mehr die Natur gilt als unberechenbar, sondern der Mensch - der mit seinem profitorientierten Handeln das Gleichgewicht der Natur zerstört. Aus der Naturkatastrophe sei mehr und mehr die Katastrophe für die Natur geworden.

Zentrale Bedeutung dabei habe die Giftgaskatastrophe 1976 in Seveso gehabt. Damals "kamen jene Deutungen zum Tragen, die Katastrophen systematisch mit menschlichem Handeln verbinden".
... "dank" der Umweltschutzbewegung
Ausgehend von der Umweltschutz- und Anti-Atomkraft-Bewegung der 70er Jahre begannen sich diese Interpretationen gesamtgesellschaftlich langsam durchzusetzen.

"Meilensteine" dabei waren die Debatten zum Waldsterben, das Heysel-Drama 1985 und der Unfall des Atomreaktors in Tschernobyl.
Katastrophen: "Karrierechancen" in Politik und Medien
Die Katastrophen verloren also ihre "außerweltlichen Sinnhorizonte" - und wurden zum Gegenstand der "innerweltlichen politischen Auseinandersetzung".

An dieser Stelle des "NZZ"-Texts von Imhof schlägt der Medienwissenschaftler durch, denn Katastrophen billigt er ab diesem Moment im Jargon seiner Zunft "gesteigerte Karrierechancen in der öffentlichen Kommunikation zu".
Spektakulär und skandalträchtig
"Karrierechancen", die durch politische Akteure dann auch noch erfolgreich "bewirtschaftet" werden können. Mit anderen, weniger fachsprachlichen Worten: Politikern, aber auch Medien bieten Katastrophe guten Stoff für ihre Arbeit.

Einerseits da es sich um "spektakuläre Vorgänge von hohem Nachrichtenwert" handle, die sich "außerordentlich gut visualisieren lassen und Betroffenheit schaffen".

Andererseits weil sie auch gute Möglichkeiten der Skandalisierung bieten. Zentral involvierte Akteure wie Behörden, Unternehmen oder Betroffene lassen sich, so Imhof, unter dem Druck der Berichterstattung "bereits sehr früh zu wechselseitigen Schuldzuweisungen hinreißen".
Selbst im Fall des Seebebens
Das gelte auch für den aktuellen Fall des Seebebens, auch wenn dies "noch nicht auf ursächlich menschliches Handeln zurückgeführt" wird, wie Imhof schreibt. Hier kommen noch immer Deutungen zum Zuge, die sich auf Schicksalhaftigkeit und menschliche Ohnmacht beziehen.

Dennoch führe auch hier die "mediale Bewirtschaftung" zu einer "Fülle von Konfliktstilisierungen, die auch von außermedialen Akteuren genutzt werden können".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 7.1.05
->   Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft, Uni Zürich
->   Laufende Berichte zu den Folgen des Seebebens in ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010