News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Menschenbilder um 1800  
  Das Bild vom Menschen ist nicht immer dasselbe gewesen. Zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Disziplinen fand man auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Tier jeweils ganz unterschiedliche Antworten. Der ungarische Literaturwissenschaftler Endre Hars, derzeit Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), untersucht das vielschichtige Menschenbild, das die Wissenschaften vor 200 Jahren entworfen haben.  
"Anthropographie": Zur Figur des Menschen um 1800

von Endre Hars

Im 18. Jahrhundert fasziniert die Offenheit, die Undiszipliniertheit der Diskurse, die über den Menschen geführt werden. Bevor sich das Wissenschaftssystem ausdifferenzierte, das seit dem 19. Jahrhundert vorherrscht, gab es zwischen den einzelnen Wissenschaften intensive und aus heutiger Sicht irreguläre Verbindungen.

Im Stimmengewirr der Diskurse wurden Themen, Gegenstände und Kompetenzen ausgetauscht, verhandelt, aus der Anatomie in die Naturgeschichte, aus der Naturgeschichte in die Philosophie, in die Kulturforschung, in die Kunstgeschichte, in die Literatur transportiert und wiederum kontingenten und produktiven Rückübertragungen überlassen.
...
Endre Hars spricht am Montag, 17. Jänner 2005, 18 Uhr c.t., am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien.
->   Mehr über die Veranstaltung (IFK)
...
Verlernbares "Mensch-Sein"
Zu den erschütternden Erfahrungen der Epoche um 1800 gehört unter anderem auch, dass "Menschheit" und "Mensch-Sein" verlernbar sind, dass der "Stufengang" vom Tier zum Menschen auch in umgekehrter Richtung erfolgen und vom Kopf auf die Füße gestellt werden kann.

Unter dieser Perspektive wird der Mensch in ein Vergleichsverhältnis zu sich selbst gesetzt, in dem sich - ganz unterhalb der Sphäre gesellschaftlicher und kultureller Differenzierungen - die Frage nach Menschlichkeit und Nicht-Menschlichkeit nur mehr an der Sprache entscheidet.
Kaleidoskop der menschlichen Natur
Dabei rücken die verschiedensten Gegenstände und Wissensgebiete in den Blick: die Monstrositäten in Anatomie und Anthropologie, die Klassifikationsprobleme, die Wald- und Tiermenschen, die wilden Kinder der Naturgeschichte, die menschheitsgeschichtlichen Gedanken-, Züchtungs- und Isolationsexperimente der Philosophie und der Literatur, die Progressions- und Degenerations-, die Erziehungs- und Beobachtungsgeschichten der Pädagogik, aber auch die ästhetischen Debatten der Physiognomik.
Figur des Menschen - Figur der Sprache
Die Ausspielung von Anthropographie gegen Anthropologie ist auf dieser Grundlage ein Bekenntnis zur Konstitution eines Forschungsgegenstandes, auf deren Grundlage der Mensch nicht nur nicht mehr klar umrissen, sondern geradezu umrisshaft wird.

Die Figur des Menschen wird zur Figur der Sprache, zu einem Zwitter- und Zwischenwesen, das um einige Gewissheiten ärmer, jedoch um die po(i)etische Dimension des unaufhörlichen Sich-selbst-Erschaffens bereichert ist.
...
Über den Autor
Endre Hars, Ph.D., ist Universitätsdozent am Institut für Germanistik der Universität Szeged. Studium der Germanistik, Komparatistik und ungarischen Sprach- und Literaturwissenschaft in Budapest. 2004/2005 IFK_Research Fellow mit dem Projekt "Die Figur des Menschen. 'Anthropographie' um 1800". Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und Kulturwissenschaften; Literatur des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart.

Veröffentlichungen im Vorfeld des Themas: Wandelnde Leichen. Johann Karl Wezels 'Ästhetik' der Körperereignisse, in: Elena Agazzi/Eva Kocziszky (Hg.), Der fragile Körper. Zwischen Fragmentierung und Ganzheitsanspruch (in Vorb.); Revolutionspoetik. Benjamin Noldmanns Beitrag zum literarischen Werk Adolph Freiherrn Knigges, in: mit Arpad Bernath/Peter Plener (Hg.), "Der einzige Zweck des Systems". Beiträge zur Geschichte literarischer Utopien (in Vorb.). Weitere Publikationen u.a.: Singularität. Lektüren zu Botho Strauß, Würzburg 2001; Ich - jenseits der Sprache. Literatur, Anthropologie, Kultur, Budapest/Szeged 2004 (auf Ungarisch).
->   IFK
...
->   Weitere Beiträge des IFK in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010