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Beduinensprache als Entwicklungsmodell  
  Wie entstehen Sprachen und sehen ihre ersten Entwicklungsstadien aus? Diesen Fragen ging ein Forscherteam anhand einer Beduinengemeinschaft nach, die vor rund 70 Jahren damit begonnen hat, eine von den umliegenden Sprachen völlig unabhängige Gebärdensprache zu entwickeln. Zentrales Ergebnis der Studie: Grammatik bildet sich sehr früh - wahrscheinlich um ein Ausdruckssystem zu schaffen, mit dem Zusammenhänge unabhängig vom Kontext beschrieben werden können.  
Junge Gemeinschaft und genau datierbarer Beginn
In der Beduinengruppe mit Namen "Al-Sayyid", die in der israelischen Negev-Wüste lebt, wird die analysierte Gebärdensprache als zweite allgemeine Sprache neben Arabisch verwendet.

Dass die Sprachforscher gerade diese Gemeinschaft genauer unter die Lupe nahmen, hat zwei Hauptgründe: Erstens handelt es sich bei Al-Sayyid um eine relativ junge Gruppe. Sie wurde erst vor knapp 200 Jahren gegründet, momentan lebt gerade die dritte Generation.

Und zweitens gehören zu der rund 3.500 Mitglieder umfassenden Gemeinschaft etwa 150 gehörlose Menschen. Die ersten mit dieser genetisch bedingten Behinderung waren die zwei Söhne des Gründers gewesen, erst damals begann sich die Gebärdensprache zu entwickeln.
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Der Artikel "The emergence of grammar: Systematic structure in a new language" von Wendy Sandler, Irit Meir, Carol Padden und Mark Aronoff erscheint zwischen 31. Jänner 2005 und 4. Februar 2005 in den "Proceedings of the National Academy of Science" (PNAS) (DOI: 10.1073/pnas.0405448102).
->   Online-Abstract nach Veröffentlichung
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Bereits in zweiter Generation grammatikalische Strukturen
Die Wissenschaftler haben konkret anhand der zweiten Generation der "Al-Sayyid"-Gemeinschaft die Weiterentwicklung untersucht, die die Sprache seit ihrem Entstehen genommen hat.

Die Ergebnisse waren erstaunlich: Denn schon in der zweiten Generation wurde die Sprache nicht mehr nur zum Bezeichnen von Gegenständen, Personen und Eigenschaften verwendet. Es zeigen sich bereits deutlich grammatikalische Strukturen, die die Definition von Satzteilen etwa als Subjekt und Objekt zulassen.
Struktur einzigartig
Sätze in der "Al-Sayyid"-Sprache folgen dem Muster "Subjekt-Objekt-Prädikat". Die Gruppenzugehörigen würden demnach formulieren "Mann Baum sieht" anstatt wie im Deutschen "Mann sieht Baum". Adjektive oder Zahlwörter stehen bei den Beduinen prinzipiell hinter dem Substantiv. Die Sprache wird von allen Gruppen-Mitgliedern ganz natürlich gelernt - von hörenden genauso wie von gehörlosen.

Da diese Sprachstruktur weder im Arabischen noch in der israelischen oder jordanischen Gebärdensprache vorkommt, gehen die Forscher davon aus, dass sich die "Al-Sayyid"-Sprache völlig unabhängig von Umwelteinflüssen entwickelt hat.
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Gebärdensprachen in Nicaragua und Massachusetts
Für die Beduinensprache gibt es kaum vergleichbare Beispiele: So ist in Nicaragua zwar eine Gebärdensprache unter gehörlosen Kindern entstanden - allerdings mit starkem Einfluss der schulischen Umgebung, weshalb sich nicht nur aus sich selbst wachsen konnte. Am ehesten erinnert die "Al-Sayyid"-Sprache an die "Martha's Vineyard"-Sprache, die Walfänger im 19. Jahrhundert in Massachusetts wegen des hohen Anteils an Gehörlosen als eine eigene Kommunikationsform entwickelt haben. Sie ist aber zu früh ausgestorben, um aufgezeichnet und analysiert zu werden.
->   Mehr zur "Martha's Vineyard"-Sprache in Wikipedia.org (englisch)
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Modell für die Entstehung der ersten menschlichen Sprachen
Die Isolation der Sprache macht sie für die Sprachforschung so interessant: Ihre Entwicklung könnte ein Modell dafür liefern, wie die ersten menschlichen Sprachen entstanden sind.

Dass so früh Grammatik ins Spiel kommt, entspricht laut Mark Aronoff und Kollegen dem menschlichen Bedürfnis, Inhalte abstrahiert von konkreten Bedeutungszusammenhängen vermitteln zu können.

Die Sprachforscher planen daher schon das nächste Projekt: Dieses Mal soll die Weiterentwicklung von der zweiten auf die dritte Generation untersucht werden.

[science.ORF.at, 1.2.05]
Mehr zum Thema Sprachentwicklung in science.ORF.at
->   Kinder als kreative Sprachdesigner (17.9.04)
->   Links im Hirn: Der Sitz von Chomskys "Universal-Grammatik" (23.6.03)
 
 
 
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01.01.2010