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Was Schriftzeichen gemeinsam haben  
  Zwei US-Wissenschaftler haben mehr als 100 Schriftsysteme aus verschiedenen Kulturen verglichen und einige überraschende Gemeinsamkeiten entdeckt. So setzen sich etwa Buchstaben im Durchschnitt aus drei Strichen zusammen. Kein Zufall, wie die Forscher meinen: Dies sei eine Anpassung an die Bedürfnisse der menschlichen Wahrnehmung.  
Außerdem fanden Mark A. Changizi und Shinsuke Shimojo vom Caltech in Pasadena heraus, dass sämtliche Sprachen ein ganz ähnliches Sicherheitsnetz gegen Missinterpretationen eingebaut haben.

Buchstaben der untersuchten Schriftsysteme sind auch dann eindeutig identifizierbar, wenn man nur Teile von ihnen sehen kann.
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Die Studie "Character complexity and redundancy in writing systems over human history" von Mark A. Changizi und Shinsuke Shimojo erschien auf der Website des Fachblatts "Proceedings of the Royal Society B" (doi: 10.1098/rspb.2004.2942).
->   Proceedings of the Royal Society B
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Verwirrende Vielfalt
Schriftzeichen verschiedener Sprachen können so unterschiedlich aussehen, dass man eigentlich annehmen sollte, dass ihre Gestalt rein willkürlich zustande kommt. Wäre das so, dann würden die Buchstaben in den vom Menschen entwickelten Schriftsprachen keinerlei Gemeinsamkeiten aufweisen.
Verborgene Regeln
Der Mathematiker Mark A. Changizi und der Psychologe Shinsuke Shimojo vermuten hingegen, dass die historische Erfindung von Buchstaben durchaus nach verborgenen Regeln erfolgt sein könnte. Und zwar Regeln, die durch unser visuelles und motorisches System vorgegeben wurden.

Fasst man die Entwicklung von Schriftsprachen als bio-kulturellen Evolutionsprozess auf, dann sollten nach Ansicht der beiden Forscher Wahrnehmung und Motorik gewissermaßen einen Selektionsdruck ausgeübt und sie auf diese Weise geformt haben.
Analyse von 115 Schriftsystemen
Um ihre Hypothese zu überprüfen, analysierten Changizi und Shimojo 115 Schriftsysteme der Menschheitsgeschichte aus Europa, dem Nahen und Mittleren Osten, Süd- sowie Südost-Asien.

Darunter befanden sich nicht nur die bekannten Alphabet-basierten Sprachen des Griechischen, Lateinischen und Kyrillischen, bei denen jedem Laut ein Zeichen entspricht, sondern auch Konsonantensprachen (auch als Abjad-Systeme bezeichnet), zu denen etwa das Hebräische oder das Arabische gehört.

Ebenfalls erfasst wurden die so genannten Abugida-Schriften, derer man sich etwa im Sanskrit oder Hindi bedient, sowie numerische Systeme.
->   Abugida bei Wikipedia
->   Abjad bei Wikipedia
Striche als Atome der Zeichen
Bild: Proceedings of the Royal Society
Im ersten Schritt ihrer Untersuchung zerlegten Changizi und Shimojo jedes Zeichen in seine grafischen "Atome", d.h. elementare Striche.

Wie die Abbildung rechts zeigt, sind beispielsweise das "A" und das "B" unseres Alphabets aus drei Strichen aufgebaut, während es beim "C" nur einer ist.

Nach diesem Schritt erhoben die beiden Forscher die Anzahl der verschiedenen Strichtypen pro Sprache, wobei Orientierung, Länge und Form als Unterscheidungsmerkmale berücksichtigt wurden.

Der Rest der Untersuchung bestand im Wesentlichen aus einer mathematisch-statistischen Analyse der erfassten Kennzahlen.
Überraschende Gemeinsamkeiten
Changizi und Shimojo fanden heraus, dass die Zeichen der verschiedenen Schriften aus durchschnittlich drei Strichen aufgebaut werden.

Das bedeutet freilich nicht, dass bei jeder Sprache ein Mittelwert von exakt 3,0 ermittelt wurde, aber die errechneten Zahlen zeigen eine erstaunlich geringe Streuung um diesen Wert. Einzig die numerischen Systeme tanzen hier aus der Reihe, deren Zeichen kommen mit durchschnittlich zwei Strichen aus.
Redundanz hilft gegen Fehlerkennung
Außerdem entdeckten die beiden Wissenschaftler, dass die Gesamtheit der Schriftsysteme durch einen Redundanzgrad von rund 50 Prozent ausgezeichnet ist.

Das bedeutet, dass man Buchstaben auch dann noch eindeutig identifizieren kann, wenn lediglich die Hälfte der elementaren Striche sichtbar ist. Beide Eigenschaften treten im Übrigen unabhängig von der Anzahl der Buchstaben eines Schriftsystems auf.

Letzteres ist leicht erklärt: Redundanz ist eine Art "Sicherheitssystem", das vor Fehlerkennung und Missinterpretationen schützt, kein Wunder also, dass diese Eigenschaft bei den 115 Sprachen von Ahoma bis Varang Kshiti anzutreffen ist.
Hypothesen zu einer magischen Zahl
Warum die Zahl der Striche pro Buchstabe so häufig nahe dem magischen Wert 3 liegt, ist hingegen nicht so offensichtlich. Changizi und Shimojo bieten in ihrer Studie drei Hypothesen an:

Erstens sei aus psychologischen Untersuchungen bekannt, dass man im visuellen Kurzzeitgedächtnis rund drei Objekte "ablegen" kann, höhere Zahlen seien hingegen mit zeitlichem Mehraufwand verbunden.
Zeichen: Vielfältig, aber nicht ganz willkürlich
Zweitens sei möglich, dass die Zahl 3 von der hierarchischen Verarbeitung der visuellen Signale im Gehirn herrührt. Und zwar deswegen, weil höhere Gehirnbereiche aus Platzgründen nur mit einer begrenzten Zahl untergeordneter Hirnregionen "verdrahtet" sind.

Und drittens sei denkbar, dass die zahlenmäßige Begrenzung der Striche Muster der bestehenden visuellen Wahrnehmung widerspiegelt, die ihrerseits in Urzeiten zur schnellen Erfassung von Objekten herausgebildet wurde.

Fest steht für die beiden Forscher jedenfalls, dass die Charakteristika der Schrift Anpassungen an das visuo-motorische System des Menschen sind. Buchstaben können zwar vielerlei Gestalt annehmen, wurden aber eben doch nicht ganz willkürlich konstruiert.

Robert Czepel, science.ORF.at, 2.2.05
->   Caltech
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01.01.2010