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Evolution der Sprache statt Universalgrammatik  
  Wie sich menschliche Sprachen in den vergangenen 8.000 Jahren herausgebildet haben, ist Gegenstand intensiver Forschungen. Eine Theorie geht von einer angeborenen "Universalgrammatik" aus. Eine deutsche Forscherin plädiert nun dafür, dass Sprache ein System ist, das sich parallel an verschiedenen Orten selbst organisiert hat.  
Lernen anhand tausender Beispiele
Juliette Blevins vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ging der Frage nach, warum genetisch nicht verwandte Sprachen von so weit entfernten Familien wie Native American, Australian Aboriginal, Austronesian und Indo-European, oft die gleichen Lautmuster zeigen. Außerdem interessierte sie, wieso es bei Lautmustern, die man bisher als universell betrachtet hat, so viele Ausnahmen gibt.

Blevins Erklärung: Menschen erlernen diese Muster anhand tausender von Beispielen, denen sie in ihrem ersten Lebensjahr ausgesetzt sind.
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Juliette Blevins hat ihren Erklärungsansatz auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science (AAAS) vorgestellt. Sie findet heuer vom 17.-21. Februar in Washington statt. Wie jedes Jahr gilt das AAAS Annual Meeting als Schaufenster der US-Wissenschaft.
->   AAAS Annual Meeting 2005
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Chomskys Universalgrammatik
Der amerikanische Linguist Noam Chomsky prägte in den 60er Jahren den Begriff der "Universalen Grammatik". Er bezeichnet damit den angeborenen Mechanismus des Spracherwerbs, aufgrund dessen ein Kind in der Lage ist, die komplexe Grammatik - oder Syntax - prinzipiell jeder natürlichen Sprache zu erlernen.

Die Grundlage bilden komplizierte Verschaltungsregeln in den Assoziationsgebieten des menschlichen Gehirns, wobei die linke Großhirnrinde eine entscheidende Rolle spielt.
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Anatomisch untermauert
Chomskys These wurde zuletzt mit anatomischen Beweisen unterlegt: Im Juni 2003 berichteten Neurowissenschaftler, den "Sitz" der Universalgrammatik im Gehirn ausfindig gemacht zu haben - es betrifft das Broca-Areal in der linken Gehirnhälfte.
->   Der Sitz von Chomskys "Universal-Grammatik" (23.6.03)
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Selbstorganisation statt Universalgrammatik
Blevins wendet sich mit ihrer Theorie der Evolutionären Phonologie nun gegen den zentralen Grundsatz von Chomsky, wonach die Universale Grammatik angeboren ist.

Blevins argumentiert vielmehr, dass Menschen Lautmuster anhand tausender von Beispielen, denen sie in ihrem ersten Lebensjahr ausgesetzt sind, erlernen.

Treten also ähnliche Lautmuster in nicht miteinander verwandten Sprachen auf, so deutet das darauf hin, dass die Sprache ein System ist, das sich - in unterschiedlichen Regionen der Erde und zu unterschiedlichen Zeiten - selbst organisiert.
Phonetische Ähnlichkeiten nicht verwandter Sprachen
Blevins' Modell zum Lautwandel deutet darauf hin, dass auffällige phonetische Ähnlichkeiten nicht miteinander verwandter Sprachen und das seltene Auftreten bestimmter Laute auf die Wirkung evolutionärer Prinzipien zurückgeführt werden können.

Deutsch und Russisch etwa sind nicht die einzigen Sprachen, in denen stimmhafte Konsonanten wie b, d und g ihr charakteristisches "Summen" am Ende des Wortes verlieren.

Dutzende nicht miteinander verwandter Sprachen - von Afar, das in Äthiopien gesprochen wird, bis Ingush, das man im Nordkaukasus hört - haben ganz ähnliche Lautmuster.
Parallele Evolution
Warum findet man am Wortende häufiger die "leisen" p t k Laute als die "lauten" b d g Laute? Warum treten diese Laute in sehr vielen Sprachen auf, während beispielsweise die so genannten Klicklaute in der Geschichte der menschlichen Sprache einmalig sind?

Blevins meint, dass gemeinsame Lautmuster in nicht miteinander verwandten Sprachen auf eine Parallelevolution hindeuten.
Menschliche Wahrnehmung und Laut-Artikulation
 
Bild: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Stimmlose Konsonanten am Wortende entstanden in der Geschichte der menschlichen Sprache häufig. Wie biologischen Organismen auch, können Laute sich an verschiedenen Orten parallel entwickeln, so Blevins.

Da Sprache auf einem natürlichen Weg von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, bestimme die menschliche Wahrnehmung und Artikulation von Lauten, welche Veränderungen sich häufiger durchsetzen als andere - wie z.B. der Übergang von b d g zu p t k am Wortende.

[science.ORF.at, MPG, 18.2.05]
->   Juliette Blevins, MP-Institut für Evolutionäre Anthropologie
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Mathematik beruht nicht auf Sprachvermögen (15.2.05)
->   Gehirn: Schon Babys haben einseitige Sprachverarbeitung (9.9.03)
 
 
 
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01.01.2010