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Freier Wille: Eine Frage der Perspektive  
  Seit geraumer Zeit bringen die Neurowissenschaften die Annahme einer Willensfreiheit des Menschen ins Wanken. Anlässlich einer Veranstaltung am Freitag in Graz fasst der Neurobiologe Franz Mechsner die Diskussion nun in einem Gastbeitrag zusammen: Wenn die Neurologie innerhalb der chemischen und physikalischen Vorgänge im Gehirn keinen freien Willen zu erkennen vermag, sagen andere Disziplinen: "Stimmt" - worauf es ankommt, sei aber eine andere Perspektive.  
Der freie Wille und die Neurobiologie
Von Franz Mechsner

Dass wir uns und andere als frei, für unser Denken, Reden und Tun verantwortlich erleben, bedeutet einen fundamentalen Aspekt unseres Daseins als Menschen. Wir können unsere Willensfreiheit nicht bezweifeln. Anders als den Tieren ist uns Menschen das Leben nicht nur gegeben, sondern aufgegeben.

Sittliche Forderungen ebenso wie die vielfältigen alltäglichen und grundsätzlichen Ansprüche unseres Lebensweges setzen Willensfreiheit voraus. Das Strafrecht beruht auf der Annahme, dass wir Menschen uns frei entscheiden können, ob wir recht oder unrecht handeln wollen.
Auf den zweiten Blick mysteriös
Doch so unbezweifelbar, ja, unentrinnbar unsere Willensfreiheit auf den ersten Blick ist, so mysteriös wird sie auf den zweiten. Wie ist so etwas wie Willensfreiheit überhaupt möglich in einer Welt unverrückbarer Naturgesetze, denen auch wir unterworfen sind?

Das menschliche Gehirn ist ein Organ, das nach den Regeln der Physik und Chemie arbeitet. Angenommen, unser Denken, Reden und Tun geschieht im Rahmen der Naturvorgänge. Sind wir dann nicht naturgesetzlich funktionierende Automaten und der freie Wille schlicht eine Illusion?
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Veranstaltungshinweis
"Diktiert die Hirnforschung unser Bild von Mensch und Gesellschaft?"

Ort: Fachhochschule Joanneum, Auditorium Maximum.
Zeit: Freitag, 25. Februar 2005, 19.30 Uhr. Freier Eintritt.
Der Neurobiologe und Autor Franz Mechsner, Verfasser des Artikels, wird die Diskussion leiten.
->   Mehr über die Tagung in Graz
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Hirnforschung rüttelt an Selbstverständnis
Solche Überlegungen, die in letzter Zeit vor allem von Hirnforschern forciert worden sind, haben etwas Beunruhigendes, scheinen sie doch einen Angriff auf die Grundfesten unseres Selbstverständnisses als Menschen zu bedeuten inklusive der Forderung, etwa die Vorstellungen von Schuld und Verantwortung und damit die Grundlagen des Strafrechtes zu revidieren.
Vierte Kränkung der Menschheit
Schon ist die Rede von der "vierten Kränkung der Menschheit": Kopernikus hat gezeigt, dass die Erde nicht das Zentrum der Welt ist (erste Kränkung). Darwin leitete die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich her (zweite Kränkung). Freud machte plausibel, daß Unbewusstes uns mehr bestimmt als Bewusstes (dritte Kränkung).

Und nun soll, als vierte Kränkung, unsere Willensfreiheit nichts als ein Trugbild sein. Sind wir Marionetten unserer Gene und Neuronen?
Versuche weicher Definitionen
Manche versuchen, die kontroverse Diskussion zu entschärfen, indem sie behaupten, Willensfreiheit sei sehr wohl vereinbar mit Naturgesetzlichkeit, ja, Willensfreiheit sei nur im Rahmen der Naturgesetzlichkeit angemessen zu verstehen.

Willensfreiheit, mit der sich Verantwortung begründen lässt, bedeute eben keineswegs, dass der Wille nicht bedingt wäre, sondern dass er auf ganz bestimmte Weise bedingt sei, nämlich durch unser Denken und Urteilen.

Ein freier Wille sei ein Wille, der unserem Urteil und Entschluss folgt. Doch reicht es tatsächlich aus, den freien Willen gewissermaßen "weicher" zu definieren, um unsere traditionellen Vorstellungen etwa von Schuld und Verantwortlichkeit zu retten?
Willenslosigkeit bei Psychiatriepatienten ...
Der Neurowissenschaftler und Psychologe Hans Markowitsch von der Universität Bielefeld behauptet, dass die Existenz eines freien Willens sich weder im klassischen "harten" Verständnis noch im "weichen" Alltagsverständnis überzeugend begründen lässt.

Er erinnert beispielsweise daran, dass wir Patienten mit psychiatrischen Störungen ohne weiteres eine eingeschränkte oder gar fehlende Willensfreiheit zugestehen. Doch wenn wir dies tun, so argumentiert er weiter, dann dürfen wir konsequenterweise niemandem Willensfreiheit zugestehen.
... gilt auch für jedermann?
Denn nicht nur psychiatrische Patienten, sondern jedermann werde von genetischen Anlagen, vor- und nachgeburtlichen Prägungen sowie Faktoren der jeweiligen Situation (darunter dem momentanen Zustand des Gehirns) derart bestimmt, dass ein tatsächlich freies Wählen nicht möglich sei.

Freiheit des Willens bedeutet, unter genau gleichen Umständen auch selbstbestimmt anders handeln zu können. Und dies ist solchem Argument zufolge eben undenkbar. Letztlich bleibt unklar, was das Wort "selbstbestimmt" überhaupt bedeuten könnte.

Denn wenn alle inneren und äußeren Situationsfaktoren berücksichtigt sind, bleibt nichts mehr übrig, was die Handlung eines Menschen darüber hinaus bestimmen könnte.
Andere Position: Neurologen können Freiheit nicht finden
Uwe Laucken, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Oldenburg, hält solche Argumentation für im Ansatz verfehlt. Wer im neuronalen Netzwerk nach der Willensfreiheit suche, der könne a priori nicht fündig werden, denn dort finden sich naturgesetzliche Vorgänge und sonst nichts.

Anders ausgedrückt: Aussagen, die Willensfreiheit gebe es nicht, sind - so Laucken - innerhalb eines naturwissenschaftlichen Denkrahmens tautologisch richtig.

Auch noch empirisch zu belegen, dass es keine Willensfreiheit gebe, sei innerhalb dieses Denkrahmens vollkommen überflüssig. Die experimentell begründete Behauptung, dass es keine Willensfreiheit gebe, sei damit ein beispielhafter Fall von "Pseudoempirie": Die Forscher entdecken, was sie von vornherein schon gedanklich in den Gegenstand hinein gelegt haben.
Andere Denkweisen, andere Resultate
Doch, so Laucken weiter, die naturgesetzliche oder "physische" Denkform sei keineswegs die einzige Weise, mit der sich die Welt und das menschliche Dasein angemessen auffassen ließen.

Es gebe auch andere, ebenso adäquate Betrachtungsweisen, etwa die "semantische" Denkform, innerhalb deren sich etwa menschliches Handeln als zielgerichtet und sinnvoll verstehen lässt (was innerhalb der naturgesetzlichen Denkform nicht möglich ist).
Semantik liefert angemessenen Begriff von Willensfreiheit
Eine weitere Denkform sei die "phänomenale", welche berücksichtigt, dass wir Menschen als "erste Person" existieren, uns selbst und die Welt stets in dieser erlebenden Perspektive wahrnehmen und aus dieser Perspektive handeln.

Der entscheidende Punkt in Lauckens Argumentation ist nun: Willensfreiheit sei zwar innerhalb der physischen Denkform nicht verstehbar. Doch böten die semantische und besonders die phänomenale Denkweise durchaus Möglichkeiten, einen angemessenen und verständlichen Begriff von Willensfreiheit zu entwickeln.

[24.2.05]
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Über den Autor
Der Neurobiologe Franz Mechsner forscht am Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund über die Prinzipien menschlicher Bewegungssteuerung. Auch zu Fragen des Bewusstseins und der Willensfreiheit hat er in wissenschaftlichen und populären Zeitschriften veröffentlicht.
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Zum Weiterlesen:
->   Uwe Laucken: Gibt es Willensfreiheit?
->   Hans J. Markowitsch: Warum wir keinen freien Willen haben
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Serie von Herbert Hrachovec: Bedingungen für Freiheit (9.2.05)
->   Warum Hirnforscher am freien Willen zweifeln (22.11.04)
->   Habermas: Und den freien Willen gibt es doch (19.11.04)
 
 
 
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01.01.2010