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Frauentag: Geschichten, Mythen und Traditionen  
  Am 8. März wird der "Internationale Frauentag" begangen. Wie es zu ihm gekommen ist und was da eigentlich gefeiert wird, bleibt umstritten: Handelt es sich um einen "Tag der Arbeiterin" oder doch eine Art Muttertagsersatz? Die Historikerin Natascha Vittorelli von der Uni Wien schreibt in einem Gastbeitrag eine kleine Mythologie des 8. März.  
8. März: Erfundene und mehrdeutige Tradition
Von Natascha Vittorelli

Die Feierlichkeiten zum 8. März haben Tradition. Doch wie andere Traditionen musste auch der 8. März zuallererst 'erfunden' werden. Eine eindeutige Geschichte dieser Erfindung lässt sich allerdings nicht rekonstruieren.

Angepasst an die jeweiligen Bedürfnisse entsprechender Kontexte wurden unterschiedliche Geschichten erzählt. Und somit bleibt nicht nur mehrdeutig, was am 8. März gefeiert wird, sondern insbesondere auch, woran erinnert wird.
Erst nach und nach etabliert
Fest steht, dass sich der 8. März als Datum erst nach und nach durchsetzen konnte. Mitte der 1980er Jahre gab Temma Kaplan, Geschichtsprofessorin in Harvard, einen Überblick über die Vielzahl sozialistischer Ursprungserzählungen rund um die Etablierung eines Frauentages.

So habe Clara Zetkin auf der "Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz" in Kopenhagen 1910 die Einrichtung eines "Internationalen Frauentages" vorgeschlagen - zunächst noch ohne Festlegung auf ein konkretes Datum.
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Clara Zetkin
Clara Zetkin (1857-1933) zählt zu den führenden deutschen Sozialistinnen. Von 1892 bis 1917 gab sie die sozialdemokratische Frauenzeitschrift "Die Gleichheit" heraus.
->   Clara Zetkin (Deutsches Historisches Museum)
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Sozialistische Variationen
US-amerikanische SozialistInnen hatten hingegen bereits 1909 den letzten Sonntag im Februar zum "Nationalen Tag der Frau" deklariert. Anlässlich des 40. Jahrestages der "Pariser Kommune" war wiederum am 18. März 1911 in Paris, aber auch in Wien ein "Tag der Frau" begangen.

1921 erklärte Lenin in Gedenken an den St. Petersburger Frauenaufstand vom 23. Februar 1917 - nach Julianischem Kalender 8. März - den 8. März zum "Internationalen Frauentag". Der Aufstand der St. Petersburger Frauen galt als Auslöser für die Februarrevolution.
In Ravensbrück gefeiert?
Eine weitere Erzählung wurde von der Historikerin Maria Grever, Professorin in Rotterdam, in Frage gestellt: Diese besagt, der Frauentag sei am 8. März 1945 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gefeiert worden.

Nicht zuletzt deswegen hätten kommunistische Frauen nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs die Feierlichkeiten zum 8. März an den Kampf gegen Faschismus und Kapitalismus gebunden.
Sozialistische Tradierungen im Kalten Krieg unpopulär
Im Zuge des Kalten Krieges wurden sozialistische oder gar kommunistische Tradierungen des 8. März in Westeuropa und Nordamerika mitunter unpopulär.

Und während sich der 8. März in realsozialistischen Ländern zusehends zu einem staatlichen Muttertagsersatz entwickelte, verbreitete sich in der 'westlichen Welt' eine neue Legende.
Gedenken an Frauenstreik von 1857 ...
Der Anlass der Feierlichkeiten wurde auf einen spontanen Streik New Yorker Textilarbeiterinnen zurückgeführt. Diese hätten sich am 8. März 1857 gegen niedrige Löhne und zunehmende Arbeitsbelastung sowie für eine Arbeitszeitverkürzung eingesetzt.

Die Polizei habe der Demonstration ein blutiges Ende gesetzt, wobei nicht nur zahlreiche Frauen festgenommen worden seien, sondern einige auch zu Tod gekommen wären.
... entpuppte sich als Mythos
Fünfzig Jahre danach - am 8. März 1907 - wurde dieser Demonstration erstmals gedacht und seither jährlich daran erinnert.

Allerdings sollte sich diese Geschichte später als Mythos erweisen, dessen Jahr der Handlung vermutlich zu Ehren des Geburtsjahres von Clara Zetkin gewählt worden war, wie Liliane Kandel und Francoise Picq 1982 in einem Aufsehen erregenden Text aufzeigten.
Forderungen von Interessen abhängig
Von diversen historischen, nationalen und politischen Interessen hing auch wesentlich die Art der am 8. März gestellten Forderungen ab: Gefordert wurde etwa das Frauenwahlrecht, arbeitsrechtliche Verbesserungen für Frauen oder die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen.
Feministischer Erinnerungsort
Seit den 1970er Jahren wird der 8. März weltweit von autonom-feministischer Seite in Anspruch genommen. Im feministischen kollektiven Gedächtnis nimmt er einen besonderen Stellenwert ein.

Ob "Internationaler Frauentag", "Tag der Arbeiterin" oder "Tag der Sozialistin" - der 8. März bietet jedes Jahr aufs Neue zahlreiche Gründen zu feiern und zu fordern, zu erinnern und zu demonstrieren.

Natascha Vittorelli, 7.3.05
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Über die Autorin
Natascha Vittorelli ist Historikerin, DOC Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (2001-2004) und lehrt an der Universität Wien. Sie arbeitet im Rahmen Ihrer Dissertation zur Geschichtsschreibung von Frauenbewegungen.
->   Natascha Vittorelli (Uni Wien)
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->   Homepage Temma Kaplan (Rutgers University)
->   Homepage Maria Grever (Universität Rotterdam)
 
 
 
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01.01.2010