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"Bildung riskiert" durch Uni-Reformen  
  Abschied vom Humboldtschen Bildungsideal, Entscheidungsautonomie, Gebühren für Studierende, demnächst vielleicht das Ende des freien Hochschulzugangs: Das sind einige der Resultate von Reformen, mit denen die Universitäten seit den frühen 90er Jahren konfrontiert sind. Ein jüngst erschienenes Buch liefert einen genauen Überblick über diese Entwicklungen, durch die "Bildung riskiert".  

Das gleichnamige Buch liefert einen Beitrag zu einem Paradox der aktuellen Bildungsdebatte. Die Diplomandin Christine Rabl fasst dies in ihrem Beitrag so zusammen: "Die Universität befindet sich in einem besonderen Spannungsfeld: Während Bildung einen ihrer Gegenstände wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses darstellt, ist sie als Institution auch dazu bestimmt Bildung zu ermöglichen."

In einem seltenen Akt der Selbstreflexion wurden deshalb Stimmen und Sichtweisen von Studierenden, Lehrenden und Forschenden am Institut für Bildungswissenschaft der Uni Wien gesammelt.
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Das Buch
Agnieszka Dzierzbicka, Richard Kubac, Elisabeth Sattler (Hg.): Bildung riskiert. Erziehungswissenschaftliche Markierungen, Löcker Verlag, Wien 2005
->   Das Buch im Löcker Verlag
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Humboldtideal tot ...
Alfred Schirlbauer, derzeit Leiter der Forschungseinheit Schul- und Bildungsforschung, untersucht die Ruinen des Bildungsideals von Wilhelm Humboldt. "Bildung als Selbstzweck und Gegenstand permanenter Verbesserungsbemühungen für den Menschen" ist seiner Analyse nach out. Und Humboldt längst ein "toter Hund".

An einem ganz anderen Ort, weit abseits der Unis, sieht er Humboldts Plädoyer für zweckfreie Allgemeinbildung aber plötzlich als erstaunlich lebendig: im Fitnesscenter. "In den verspiegelten Sälen dieser Studios ist Humboldts Bildungstheorie gelebte Praxis", schreibt Schirlbauer.
... außer im Fitnesscenter
Während aber Bodybuilder ihre Muskeln rein zum Selbstzweck hegen und pflegen, wird die Zweckfreiheit der Bildung zunehmend obsolet. Ausbildung ersetzt Bildung, employability die Allgemeinbildung.

Ein Imperativ der bildungspolitischen Programmpapiere von EU oder Bildungsministerium laut Schirlbauer: "Habe keine Wissen, dessen Halbwertszeit die Dauer deiner Nützlichkeit in einem der McJobs, in denen du dich verdingen wirst, übersteigt!"
Innovation: Mehr Rhetorik als Karriere
Mit einem besonderen Vokabel der Reformdebatte setzt sich die Lehrbeauftragte Helga Eberherr auseinander: der "Innovation". Während "innovative, insbesondere fächerübergreifende Lehre" von zahlreichen Programmen des Bildungsministeriums gefordert und gefördert wird, erweist sie sich in der akademischen Realität oft als "Karrierehemmnis".

Wissenschaftliche Karrieren, so Eberherr, sind "nach wie vor an das Erbringen exzellenter disziplinärer Leistungen geknüpft".

Das ist auch das empirische Resultat, das sich aus Befragungen von Studierenden und Promovierenden unterschiedlicher Fächer ergeben hat. Zitat einer der Befragten: "Es wird so viel von Interdisziplinarität gesprochen, aber in Wirklichkeit will das niemand."
Ewige Forderung nach mehr Praxis
Ähnlich gebetsmühlenartig wie Innovation wird an den Unis auch die größtmögliche "Praxisbezogenheit" des Studiums gefordert - gleichgültig ob in der Selbstsicht von Studierenden oder in der öffentlichen Diskussion.

"Praxis wird als stets knappes Gut der Ausbildung gesehen", schreibt Helene Babel in ihrem Beitrag. Das sei schon zu Zeiten Schellings so gewesen, so die Lehrbeauftragte.
Versteckte Abneigung gegen Lehrerberuf
Speziell bei der Ausbildung von Lehrern scheint es bei den ständigen Ermahnungen zu mehr Praxis aber heute eher um eine "kollektive Abneigung gegen den Lehrerberuf" zu gehen - eine Abneigung, die von Studierenden oft geteilt wird.

Babel plädiert deshalb gegen eine "fatale Ideologie, die ... die gesamte Ausbildung unmittelbar an den in der beruflichen Praxis maßgeblichen Kriterien" bemisst. Vielmehr bedürfe die Lehrerausbildung einer ganzen Reihe von Wissensformen - darunter auch sozialisations-, entwicklungs- und organisationstheoretisches Wissen.
Risiko der autonomen Unis ...
Dem titelgebenden Begriff des Buchs widmet sich Gertrude Brinek. Um das "Risiko der autonomen Uni" geht es ihr, die als ÖVP-Wissenschaftssprecherin dazu maßgeblich beigetragen hat.

Legistische Basis für die Hochschulautonomie war das Uni-Gesetz 2002, "von Apokalyptikern als Total-Angriff auf die traditionellen Wissenschaften gewertet, von den Euphorikern als längst fällige... Erneuerung für die Universitäten ... gefeiert," schreibt Brinek.

In ihrer Eigenschaft als Assistenzprofessorin der Bildungswissenschaft setzt sie die Risiken der nunmehr autonomen (sprich nicht mehr juristisch, "nur" noch finanziell vom Bildungsministerium abhängigen) Unis mit den Risiken des Forschens und Lernens im Allgemeinen parallel.
... und der autonomen Uni-Lehrenden
Neue Erkenntnisse in der Wissenschaft seien auch mit dem - oft schmerzreichen - Verlust alter Wahrheiten verbunden. Umgelegt auf die Bildungsreformen bedeutet dies ein Abschiednehmen von alten Mythen - u.a. von dem von Schirlbauer nur noch bei Bodybuildern gefundenen "Humboldt-Ideal".

Oder: "Zwischen Verfallstheorie und Zukunftsschwärmerei liegt die Freilassung in die Selbst-Verantwortung. Diese ist nie ohne Risiko."
Positives Fazit
Fazit nach dem Lesen des Buchs: Hierbei handelt es sich um eine längst überfällige Sammlung von Standpunkten zur Bildungsdebatte. Die Zusammenstellung der Autoren ist mutig, das Themen- und Meinungsspektrum ist breit, Widerspruch wird zugelassen.

Besonders die Beiträge der Studierenden zeugen von hoher Qualität, sodass uns um die Zukunft der Bildungswissenschaft nicht bange sein muss.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 11.3.05
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01.01.2010