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Wie entsteht biologische Komplexität?  
  Was unterscheidet Homo sapiens von einfacher organisierten Lebewesen? Entgegen früheren Annahmen ist es nicht die Zahl der Gene, die Verwaltung der Erbfaktoren, die den Menschen zum Menschen macht.  
Wie John Mattick von der University of Queensland berichtet, verdanken insbesondere die Säugetiere ihre biologische Komplexität ganz unscheinbaren Molekülen, den so genannten kleinen Ribonukleinsäuren.

Diese haben im Lauf der Naturgeschichte den Proteinen bei der genetischen Regulation unter die Arme gegriffen - offenbar der entscheidende Durchbruch, welcher zur Entstehung höherer Lebewesen geführt hat.
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Zu dieser Theorie erschien kürzlich der Aufsatz "What Makes a Human?" von John Mattick im Wissenschaftsmagazin "The Scientist" (Band 19, Ausgabe vom 28.2.05).
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Macht mehr DNA komplexere Lebewesen?
Säugetiere sind komplexer als Bakterien, Fruchtfliegen und Fadenwürmer, darüber lässt sich leicht Übereinstimmung erzielen. Allerdings ist gar nicht so klar, warum. Ein nahe liegender Versuch ist, die Unterschiede dieser Lebewesen von der Größe des Genoms, das heißt der Menge an DNA im Zellkern, abzuleiten.

Das funktioniert auf den ersten Blick ganz gut: Das Bakterium Escherichia coli besitzt rund vier Millionen Basenpaare, bei der Hefe sind es ca. 13,5 Millionen und beim Menschen etwa drei Milliarden.

Allerdings gibt es eine Reihe von Ausnahmen, die die Regel "Je mehr DNA, desto komplexer der Organismus" fragwürdig erscheinen lassen. Einige Amphibien übertreffen mit ihrer Genomgröße den Menschen - und Tulpen beherbergen sogar bis zu zehn Mal mehr DNA in ihren Zellkernen als Homo sapiens.

Die Menge an DNA allein ist es also offenbar nicht, die das Organisationsniveau eines Lebewesens festlegt.
Das C-Wert-Paradox
Dieses unter dem Namen "C-Wert-Paradox" in die Literatur eingegangene Rätsel lässt sich auch nicht auflösen, indem man statt der Genomgröße die Zahl der Gene vergleicht.

Zwar befindet sich der Mensch mit geschätzten 20.000 bis 25.000 Erbfaktoren in der Spitzengruppe der Tiere, bei anderen Säugetieren - wie etwa Maus oder Ratte - sind es jedoch nicht viel weniger.

Und selbst der aus nur rund tausend Zellen bestehende Fadenwurm kann 19.000 Gene sein eigen nennen: Machen also läppische 1.000 bis 5.000 Gene den Unterschied zwischen Wurm und Mensch aus? Wohl kaum.
->   The C-Value Paradox (Natural History Museum London)
Zahl der Bausteine nicht entscheidend
Wie etwa der ungarische Evolutionstheoretiker Eörs Szathmáry vor einigen Jahren vorgeschlagen hat (Science 292, S. 1315), ist es in diesem Zusammenhang sinnvoller, das Augenmerk nicht auf die genetischen Einzelbausteine, sondern vielmehr auf das regulatorische Netzwerk in der lebenden Zelle zu legen.
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Der Plan macht den Unterschied, nicht die Teile
Was damit gemeint ist, zeigt ein Beispiel aus der Technik: Autos wird man vermutlich als komplexe Maschinen ansehen, sie sind das aber nicht unbedingt deswegen, weil sie aus äußerst vielen Einzelbauteilen bestehen.

In der Tat ist sogar das Gegenteil der Fall: Hersteller sind aus Kostengründen daran interessiert, möglichst viele Normbauteile zu verwenden und die Zahl der Einzelstücke gering zu halten.

Das, was ein Auto zu einer funktionsfähigen Maschine macht, sind vielmehr die Baupläne der Ingenieure und die Kontrollsysteme der Fertigungsstraßen.
Regulatorische Moleküle formen den Rohstoff
Genau diese Rolle übernehmen in den Lebewesen die regulatorischen Moleküle, welche entscheiden, wann und wo welches Gen aktiviert oder stillgelegt wird, sodass sich ein bestimmter Zelltypus am richtigen Ort entwickeln kann.

John S. Mattick und Michael J. Gagen von der University of Queensland haben diesen Ansatz kürzlich um einen interessanten Aspekt vertieft (Science 307, S. 856).

Sie untersuchten Netzwerke in technischen und biologischen Systemen und kamen zu dem Schluss, dass man grob zwischen zwei Typen unterscheiden muss.
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Zwei Typen von Netzwerken: Skaleninvariant ...
Zum einen jene, die als skaleninvariante Systeme ("scale free networks") bekannt sind. Ein Beispiel dafür ist etwa das Internet: Statistisch betrachtet ist die Zahl der Links pro Website relativ unabhängig von dessen Gesamtgröße.

Das wäre an sich nur eine Spitzfindigkeit, wenn es nicht auch einen Hinweis auf die Architektur solcher Netzwerke geben würde. Denn ob ein einzelner Server oder Computer seinen Netzanschluss einbüßt oder nicht, hat kaum einen Einfluss auf das System als Ganzes. Daher kann das Internet auch unbegrenzt wachsen ohne dabei seine Funktionsfähigkeit einzubüßen.
... und beschleunigt
Ganz anders ist das beim zweiten Typus, den so genannten beschleunigten Netzwerken ("accelerating networks"), die häufig in sozialen, biologischen und technischen Kontexten auftreten. Diese weisen eine globale Empfindlichkeit gegenüber dem Zustand ihrer Elemente auf.

Hier gilt die Regel: Fällt ein Teil aus, ist auch das Ganze unmittelbar gefährdet. Eine Konsequenz daraus ist, dass diese Systeme nur dann größer werden können, wenn die interne Vernetzung überproportional ansteigt.

Damit sind allerdings hohe Kosten verbunden, die dem eine natürliche Grenze setzen. Es sei denn, so Mattick und Gagen, es werden neue Verfahren eingeführt, mittels derer das System effizienter gesteuert werden kann.
Technologische Sprünge in der Wirtschaft
Zwei Fälle, bei denen das geschehen ist: Der weltweite Flugverkehr hat seinen aktuellen Umfang nur deswegen erreicht, weil die Limitierungen der analogen Kontrollsysteme durch digitale Anlagen überwunden werden konnten.

Ähnlich die Börsenbetriebe, bei denen Händler ihre An- und Verkäufe nun nicht mehr mittels Zuruf, sondern über automatische Handelssysteme erledigen.
Analoger Fall in der Evolution?
Ein analoger Fall ist nach Ansicht von Mattick und Gagen bei der Entstehung höherer Lebewesen gegeben. Die genetischen Kontroll- und Steuersysteme der Bakterien bestehen aus Proteinen, die als Netzwerkverbindungen zwischen einzelnen Genen angesehen werden können.

Wie bei anderen Netzwerken dieser Kategorie steigt auch hier die Zahl der "Verbindungen" (d.h. der regulatorischen Proteine) sprunghaft an, wenn das Erbgut der Bakterien an Größe gewinnt.
Erklärung für Begrenzung des Bakteriengenoms
 
Bild: Science

Daher liegt die Vermutung nahe, dass es aus diesem Grund ein oberes Limit für die Größe des bakteriellen Genoms gibt. Ab einer Zahl von 10.000 Genen wird der Kontrollaufwand zu groß und das System arbeitet unökonomisch. Und so etwas wird bekanntlich von der natürlichen Selektion nicht toleriert.

Bild oben: Bei Bakterien (blau) und Supercomputern (orange) steigt die Zahl der Verbindungen mit dem Quadrat der Netzwerkgröße. Bei 4.000 Bakteriengenen müssen rund 2,5 Prozent regulatorische Aufgaben übernehmen, bei 8.000 sind es bereits neun Prozent.
Kleine Moleküle ganz groß
Nach Ansicht von Mattick und Gagen fand - ähnlich dem internationalen Flugverkehr - auch in der Naturgeschichte eine folgenreiche Ersetzung analoger "Technologie" durch eine digitale statt.

Während sich Bakterien in der Genregulation auf die Arbeit von Proteinen verlassen, haben Lebewesen mit echtem Zellkern diese Aufgabe zum Teil an die Ribonukleinsäuren (RNAs) delegiert, die bekanntlich mit einem Vier-Buchstaben-Code arbeiten.

Obwohl man früher dachte, dass es sich bei diesen Molekülen um passive Teilnehmer der genetischen Transkription handelt, setzt sich nun immer mehr die Ansicht durch, dass die jüngst entdeckten RNA-Typen ( z.B. die so genannten miRNAs, siRNAs) zu den Hauptakteuren im Konzert der genetischen Regelung zählen.

Diese Erkenntnis wurde im Jahr 2002 von der Fachzeitschrift "Science" als "Breakthrough of the Year" gefeiert, Mattick und Gagen geben der Angelegenheit nun aber einen neuen Dreh: Ihrer Theorie zufolge ist dieser Sprung zu einem digitalen genetischen Kontrollsystem verantwortlich dafür, dass jemals komplexere Lebewesen als Bakterien entstehen konnten.

Robert Czepel, science.ORF.at, 14.3.05
->   Mattick Group - University of Queensland
 
 
 
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01.01.2010