News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Dahrendorf: Was immun gegen Totalitarismus macht  
  Warum begeisterten sich im 20. Jahrhundert so viele Intellektuelle für Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus? Der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf antwortet darauf mit dem Hinweis auf vier Tugenden, die "immun" machen: den Mut zur Freiheit in Einsamkeit, das Ertragen von Widersprüchen, das engagierte Beobachten und die "Leidenschaft der Vernunft".  
Im Jänner 2005 hielt der britische Lord am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) einen Vortrag zu dem Thema. In einer vermeintlich ahistorischen Schlusspointe identifizierte Dahrendorf dabei einen Intellektuellen, der alle vier Tugenden vereint: Erasmus von Rotterdam.
...
Der Essay "Versuchungen der Unfreiheit" ist soeben in den WZB-Mitteilungen (Heft 107, März 2005) erschienen.
->   WZB-Mitteilungen 107 (pdf-Datei)
...
Mut zur Freiheit auch in Einsamkeit
Als Anhänger der Totalitarismustheorie sind für Dahrendorf
Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus gleichartig. Die Eingangsfrage, die er in seinem Essay stellt: "Was hatten die Immun-Menschen gemeinsam, das ihnen die Kraft gab, den Versuchungen der Zeit zu widerstehen?" Seine Antwort: Sie vereinten in sich gewisse geistige Charakterzüge - vier davon erläutert er näher.

Die erste Grundhaltung beschreibt Dahrendorf als "Mut, die Sache der Freiheit in Einsamkeit zu vertreten". Auf Argumente zu setzen, bedürfe in einer Welt, in der "die Stärke der Bataillone mehr zählt", oftmals eines heroischen Muts.

Als ein Beispiel dafür erachtet er die Philosophin Hannah Arendt, über die Joachim Fest einmal geschrieben hat: "Doch hat sie die Isolierung, in die sie schon früh geriet, als Preis der Freiheit bereitwillig in Kauf genommen."
Widersprüche ertragen
Als zweite Tugend zählt Dahrendorf die Fähigkeit auf, mit Widersprüchen zu leben. "Möglicherweise ist die größte Schwäche derer, die den Versuchungen des Totalitarismus erlegen sind, dass sie es nicht lassen konnten, einen Gott, zumindest aber eine Verheißung zu suchen, in der alle lästigen Widersprüche der Realität aufgehoben sind."

Diese Verheißungen lagen etwa in der von Marx vorgeschlagenen, von Hegel getragenen Aufhebung aller historischen Kämpfe in der Synthese der kommunistischen Gesellschaft. Oder - "weit primitiver" - in der Sehnsucht nach Gemeinschaft und dem Führerkult des Nationalsozialismus.

Mündigkeit und Aufklärung, so Dahrendorf, verlange aber im Gegenteil das Ertragen von Widersprüchen, nicht die Suche nach deren Auflösung oder Aufhebung.
...
Ralf Dahrendorf
Der Soziologe Ralf Dahrendorf, geboren 1929 in Hamburg, lehrte und forschte an den Unis Saarbrücken, Hamburg, Tübingen, Konstanz, New York, und Oxford. Von 1974 bis 1984 war er Direktor der London School of Economics. Seit 1993 ist er Mitglied des House of Lords des britischen Parlaments, seit Jänner 2005 Forschungsprofessor am Wissenschaftszentrum Berlin.
->   Mehr zu Leben und Werk bei Wikipedia
...
Beobachten, aber engagiert
Tugend Nummer drei ist die des "engagierten Beobachters". Dabei gehe es darum, die sich "vollziehende Geschichte so objektiv wie möglich zu beobachten, ohne doch völlig distanziert zu bleiben".

Einer, der das vorzüglich geschafft habe, ist der französische Soziologe Raymond Aron gewesen, der zwar niemals neutral blieb, aber auch nicht den "immer neuen Enthusiasmen, ... den verschiedenen Formen des 'Opiums für Intellektuelle'" verfiel wie etwa Jean-Paul Sartre.

Der engagierte Beobachter "beschreibt und analysiert und urteilt und schreibt und schreibt und schreibt, aber er handelt nicht".
Die Leidenschaft der Vernunft
Die vierte wesentliche Geisteshaltung, die gegen illiberale Tendenzen immun macht, ist für Dahrendorf die "Passion der Vernunft" - das Bestehen auf Diskurs, Argumentation und rationaler Prüfung aller Behauptungen. Diese Leidenschaft ist laut Dahrendorf leise, aber unerschütterlich.

Vereint sieht Dahrendorf diese vier Charaktereigenschaften - Mut zur Freiheit in Einsamkeit, Ertragen von Widersprüchen, engagiertes Beobachten, Passion der Vernunft - in einer zentralen Gestalt des Humanismus: Erasmus von Rotterdam.

Über ihn schrieb ein Biograph: "Als geistiger Typus gehört [er] zu der ziemlich seltenen Gruppe derjenigen, die unbedingte Idealisten und zugleich durchaus Gemäßigte sind."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 16.3.05
->   Mehr über Totalitarismus ...
->   ... und Erasmus von Rotterdam (Wikipedia)
->   WZB
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010