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Bakterien mit Tarnkappe  
  Das Immunsystem beseitigt sämtliche fremde Zellen aus unserem Körper, nur bei den nützlichen Bakterien unserer Darmflora bleibt dieses ansonsten unerbittliche Abwehrsystem erstaunlich gelassen. US-Forscher haben nun herausgefunden, warum das so ist: Symbiontische Bakterien bedienen sich einer Art molekularer Tarnkappe, die sie für Immunzellen unsichtbar macht.  
Ein Team um Laurie E. Comstock von der Harvard Medical School hat herausgefunden, dass die Art Bacteroides fragilis das Äußere von Darmzellen imitiert: Sie schmückt ihre Zelloberfläche mit genau denselben Zuckermolekülen, die auch auf der Auskleidung des Darmes zu finden sind.
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Die Studie "Human Symbionts Use a Host-Like Pathway for Surface Fucosylation" von Michael J. Coyne et al. erschien im Fachjournal "Science" (Band 307, S.1778-81, Ausgabe vom 18.3.05).
->   Science
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Mehr als ein Kilogramm Bakterien im Darm
Eigentlich wiegen wir alle 1,2 Kilogramm weniger, als es unsere Waage anzeigt. Genau so viel macht nämlich die Gesamtmasse aller Mikroorganismen aus, die unseren Darm besiedeln.

Die vorwiegend aus Bakterien und einige Pilzen bestehende Darmflora ist zwar nicht lebenswichtig, sie übernimmt aber entscheidende Aufgaben beim Aufschluss von Nahrung, der Vitaminsynthese und sogar bei der Abwehr von pathogenen Keimen.

Wird sie geschädigt, geht es uns nicht besonders gut, wie jeder weiß, der gerade eine Antibiotikakur absolviert hat.
Selbst oder Nicht-Selbst, das ist die Frage
Stichwort Abwehr: Für diese Aufgabe gibt es im menschlichen Körper bekanntlich eine Art Körperpolizei, das aus spezialisierten Zellen und Molekülen bestehende Immunsystem, dessen Hauptaufgabe es ist, zwischen Selbst und Nicht-Selbst zu unterscheiden. Was in die erste Kategorie fällt, gehört zum Körper und wird als ungefährlich eingestuft.

Alles andere gehört zur Gruppe der potenziellen Schädlinge: Bakterien, Viren und alle anderen Fremdkörper werden mit einem ganzen Arsenal von Abwehrmechanismen zur Strecke gebracht oder entfernt.

In dieser Hinsicht gelten die Wirbeltiere als die Großmeister der Verteidigung im Tierreich, denn ihre körpereigenen Abwehrringe verfügen vermutlich über die raffiniertesten Strategien, um der mikroskopischen Eindringlinge Herr zu werden.
->   Immunsystem bei Wikipedia
Paradox: Unbehelligte Darmbakterien
Symbionten, wie etwa Darmbakterien, passen da nicht so recht ins Bild: In einem Gramm Darmflora tummeln sich bis zu 1012 Organismen - und sie tun das, ohne vom Immunsystem behelligt zu werden.

Warum eigentlich? Schließlich handelt es sich auch bei ihnen um körperfremde Lebewesen. Dieser blinde Fleck im Blickfeld des Immunsystems ist zweifelsohne erklärungsbedürftig, er ist ein "immunologisches Paradox", wie es etwa der Immunbiologe H. Rex Gaskins von der University of Illinois kürzlich ausgedrückt hat.
Antennen in der Darmwand

"Dekormolekül" L-Fucose
Die Antwort darauf könnte die im menschlichen Darm verbreitete Bakteriengattung Bacteroides geben. Wie ein internationales Forscherteam um Jeffrey I. Gordon im Jahr 1996 gezeigt hat, vegetieren die Mikroorganismen nicht passiv im Inneren des menschlichen Körpers (Science 273, S.1380).

Sie gehen vielmehr eine innige Beziehung mit den Epithelzellen des Darmes ein - also jenen Zellen, die die innere Auskleidung unseres Verdauungstraktes bilden.

Epithelzellen besitzen, wie viele andere Zellen auch, eine Reihe von Proteinen und Polysachariden, die wie Antennen an deren Oberfläche stehen. Das Besondere daran: Ihre Oberflächenstrukturen sind mit einem speziellen Zuckermolekül, der so genannten L-Fucose dekoriert (Bild rechts).
->   Zum Artikel bei Science
Bakterien "schlucken" fremde Moleküle
Gordon und Mitarbeiter konnten nun zeigen, dass diese Dekorierung von Bakterien der Gattung Bacteroides initiiert wird. Folgestudien zeigten weiterhin, dass diese Bakterien wiederum die Oberfläche der Darmzellen regelrecht beernten, sich die L-Fucose einverleiben und schließlich als Energiequelle verwenden (PNAS 96, S. 9833).
->   Zum Artikel bei PNAS
Recycling im Dienste der Tarnung?
Dass dieser Vorgang nicht nur im Dienste der Energiegewinnung steht, hat nun ein Team von Harvard-Medizinern um Laurie E. Comstock gezeigt. Die US-Forscher fanden heraus, dass die Art Bacteroides fragilis das Zuckermolekül gewissermaßen recycelt:

Sie schleust die L-Fucose zwar in den eigenen Stoffwechsel ein, schmückt damit aber ihrerseits ihre Zelloberfläche, ganz so, wie es auch die Epithelzellen des Darmes tun.

Könnte es sich hierbei um eine Art Tarnkappen-Strategie handeln, die Lösung für Gaskins "immunologisches Paradox"? Comstock und Kollegen sahen das jedenfalls so, sie intepretierten die Dekoration an der Oberfläche der Bakterien als Zeichen einer "molekularen Mimikry".
Ohne Schmuck nicht konkurrenzfähig
Um diese Hypothese zu überprüfen, mussten sie zunächst jene Schlüsselgene identifizieren, die dem Bakterium die zielgerechte Verarbeitung der L-Fucose ermöglichen. Nachdem das gelungen war, schalteten sie diese Erbfaktoren gezielt aus.

Ein erster Vergleich zwischen unverändertem und mutiertem Bakterienstamm zeigte, dass beide prinzipiell imstande sind, den entkeimten Darm von Mäusen zu kolonisieren.

Unter kompetitiven Bedingungen traten jedoch klare Unterschiede zutage: Wurde der Darm mit einer 1:1-Mischung der beiden Bakterienstämme beimpft, zeigte sich sehr schnell, dass die mit L-Fucose ausgestatteten Mikroben die Oberhand gewinnen.

Bereits nach 24 Stunden war der Anteil der mutierten Bakterien im Stuhl der Mäuse auf rund fünf Prozent zurückgegangen, nach drei Tagen waren sie ganz verschwunden.
Ein Trick nur für die Guten?
Weitere Versuche mit anderen Mischverhältnissen bestätigten die Hypothese ebenfalls: Bei den Zuckermolekülen dürfte es sich tatsächlich um eine Art immunologische Tarnkappe handeln.

Das wirft freilich eine weitere Frage auf: Warum kommen pathogene Keime nicht auf die Idee, sich auf diese Weise unsichtbar zu machen?

Robert Czepel, science.ORF.at, 18.3.04
->   Harvard Medical School
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01.01.2010