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Gedenkjahr: Neo-Mythologisierung der Zeitgeschichte  
  Den Mythen der österreichischen Zeitgeschichte widmet sich eine Ausstellung, die am 19. März in Steyr eröffnet wurde. Michael John, Kurator der Ausstellung und Sozialhistoriker der Uni Linz, sieht seine Befürchtungen im Vorfeld des Jubiläumsjahrs 2005 bestätigt: Österreich steht vor einer Neo-Mythologisierung der jüngeren Geschichte wie in Jahrzehnten davor nicht, meint er in einem Gastbeitrag.  
Der Staatsvertrag als Erzählung
Von Michael John

Sieht man in einem Nachschlagewerk nach, wird als "Mythos" eine "legendär gewordene Gestalt oder Begebenheit, der man große Verehrung entgegenbringt", bezeichnet.

Genau dies trifft auf den Staatsvertrag zu: Die Erinnerung an ihn ist von großer Wichtigkeit für die Zweite Republik - als Neubeginn einer von Diktaturen, Krieg, Armut und Elend gezeichneten Gesellschaft. Als eine Art zweite "Stunde Null" nach der ersten im Jahr 1945.

Der Staatsvertrag wurde solcherart zur identitätsstiftenden Erzählung der Zweiten Republik oder soll es zumindest werden. Im Mittelpunkt steht das geeinte Österreich. Zu einer Heldenerzählung gehören auch Helden und die sind bald gefunden.
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Ausstellung: "Mythos Staatsvertrag. Geschichten aus der Geschichte"
Von 19. März bis 28. August 2005 im Museum Arbeitswelt, Wehrgrabengasse 7a, Steyr.
Öffnungszeiten: täglich außer Montag 9-17 Uhr.
->   Die Ausstellung in Steyr
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"Nette Legenden" und "zelebriertes Staatsbewusstsein"
Von Anbeginn gab es seitens einflussreicher Kreise die Meinung, es sei gar nicht so wichtig, welchen realen Hintergrund der Staatsvertrag habe. Die Erzählung, die Inszenierung, die "Story", rückten demgegenüber in den Vordergrund.

Ein zelebriertes Staatsbewusstsein in Erinnerung an 1955 soll zur Stabilisierung der Republik beitragen, unabhängig von der tatsächlichen historischen Authentizität. Gestandene positivistische Historiker, gestrenge Wissenschaftler, die in Prüfungen beinhart bei "falschen" Antworten ein "nicht genügend" vergeben, meinen plötzlich bei nicht zutreffenden Darstellungen milde lächelnd, "Ach, das sind doch nette Legenden".

Der Philosoph und ehemalige Rektor Rudolf Burger hält gar ein "Plädoyer für das Vergessen" und er meint dabei nicht etwa den Staatsvertrag, sondern den Holocaust.
Der Staatsvertrag als Gedächtnisort
Im zeitgenössischen Österreich existieren eine Reihe von Gedächtnisorten: der 12. November 1918 als Tag der Errichtung der Republik, der 12. Februar 1934, schließlich auch der 12./13. März 1938, an dem Hitler den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verkündete.

Im Jahr 1945 wurde Ende April, Anfang Mai das Ende nationalsozialistischer Herrschaft ebenso wie des Zweiten Weltkriegs markiert.

Der "Gedächtnisort Staatsvertrag 1955" war von Anbeginn unterschiedlich akzentuiert.
Keine großen Feiern in Linz, Salzburg oder Graz
In Wien nahmen am 15. Mai 1955 Zehntausende begeistert Anteil, in Linz jedoch blieb es ruhig. Man hatte schon am 8. Juni 1953 gejubelt, als die Sowjetunion ihre Kontrolltätigkeit einstellte. Aus Graz und Salzburg wurden ebenfalls keine großen Feiern gemeldet.
Kreisky vor 25 Jahren: "Kein patriotisches Happening"
Während im Jubiläumsjahr 2005 die "Erfolgsstory" der Zweiten Republik und die "Väter des Staatsvertrags" Raab und Figl in den Vordergrund rücken sollen, spielten sich die Feiern zum 25jährigen Jubiläum in einer anderen Atmosphäre ab.

Einerseits war damals versucht worden, den Anteil der Sozialdemokratie stärker in den Vordergrund zu rücken, andererseits sprach Bundeskanzler Kreisky in seiner Festansprache am 15. Mai 1980 von einer "Stunde der Besinnung" und referierte sogleich die Zahl der Opfer des NS-Regimes. An anderer Stelle meinte er, dies sei kein "politisch-patriotisches Happening".
Wiener Charme und die "Reblaus"
Genau dies ist der Punkt: Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust hängen untrennbar mit dem Staatsvertrag zusammen. Der Staatsvertrag ist eine Art Friedensvertrag und ohne A gibt es kein B.

"Nette Legenden", wie Figls nicht stattgefundener Ruf vom Balkon des Belvedere "Österreich ist frei!" oder die Vorstellung, das mutige Duo Raab und Figl habe in Moskau den Staatsvertrag quasi mit ihrem Charme und dem Zuspruch alkoholischer Getränke erreicht, tragen zur Mythologisierung des Geschehens bei: "Und jetzt, Raab - jetzt noch d' Reblaus, dann sans waach!" heißt es in der bekannten Karikatur von H.E. Köhler.

Leopold Figl hat sich zwar auch öffentlich zu seiner "Politik des Weinglases" bekannt, das aber ist eine andere Sache. Der Staatsvertrag wurde nicht von einem kauzigen Politiker erwirkt, sondern in achtjährigen Verhandlungen, die vom Konsens der vier Alliierten und der österreichischen Regierungspartner Volkspartei und Sozialdemokratie getragen sein musste.
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Das Gedenkjahr in science.ORF.at
In loser Folge erscheinen in science.ORF.at redaktionelle Texte und Gastbeiträge zu dem Schwerpunkt "Gedenkjahr 2005". Bisher erschienen:
Sieglinde Rosenberger: Geschichte als Projekt mit "Open End" (15.4.05)
Austrofaschismus: Politischer Wille zur Umgestaltung (7.4.05)
Gedenkjahr: Widerstand an den Unis vor 60 Jahren (4.4.05)
Otto Urban: Vor 65 Jahren "endgültige" Liquidierung Österreichs (30.3.05)
Materieller und geistiger Wiederaufbau Österreichs (16.3.05)
Siegfried Mattl: Beglaubigte Geschichte (9.3.05)
Die ursprünglichen Pläne von "25 Peaces" (28.1.05)
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Wir sind doch alle Österreicher ...
Hinter den Legenden entdeckt man die Verdrängung bestimmter historischer Gegebenheiten und das ist seitens der seriösen Wissenschaft wirklich altbekannt, muss aber 2005 offenbar wieder betont werden.

Österreich war Teil des Dritten Reiches unter Zustimmung beträchtlicher Teile seiner Bevölkerung, sie hatten in erheblichem Ausmaß an diesem NS-Staat mitgewirkt. Dem hatte die offizielle Politik der Republik Jahrzehnte lang nur teilweise und nicht hinreichend Rechnung getragen.
Schlussstrich ziehen?
Der Staatsvertrag war aufgrund der internationalen Lage und des Verhandlungsgeschicks in einer entschärften Form verabschiedet worden. In den letzten Jahren hat Österreich - warum eigentlich so spät? - einiges an Entschädigungszahlungen für NS-Opfer geleistet, keine Frage.

Auf mentaler Ebene scheint die offizielle Politik aber nun den Zeitpunkt für einen Schlussstrich zu sehen und Österreich wieder stärker als "erstes Opfer" ebenso wie als Staat, der erst 1955 "frei" wurde, in den Vordergrund zu rücken.
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Über den Autor
Michael John ist Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Linz und wissenschaftlicher Leiter der Ausstellung "Mythos Staatsvertrag. Geschichten aus der Geschichte" im Museum Arbeitswelt in Steyr.
->   Homepage Michael John (Uni Linz)
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->   Museum Arbeitswelt Steyr
->   Offizielle Website zum Jubiläumsjahr 2005
->   "Vorsorgepaket gegen ein Jahr Heimat-Feiern"
 
 
 
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01.01.2010