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Wenn die Wissenschaft den Kochlöffel schwingt  
  Wenn zu den Osterfeiertagen der Braten trocken, die Majonäse klumpig und die Eiscreme körnig ist, hätte man vielleicht Koch- mit Chemiebuch tauschen sollen. Denn viele schmackhafte wie auch Appetit verderbende Reaktionen beruhen auf molekularen Vorgängen. Eine relativ junge Disziplin könnte für mehr Erfolgserlebnisse in der Küche sorgen: die Molekulargastronomie, die alle Mysterien beim Kochen durch naturwissenschaftliche Rationalität ausräumen möchte.  
Innenleben des Souffle erforschen
"Es ist eine traurige Erkenntnis, dass wir die Temperatur in der Atmosphäre der Venus messen können, aber keine Ahnung haben, was in einem Souffle vor sich geht", meinte der Oxforder Physiker Nicholas Kurti zu Beginn der 1980er Jahre und beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Auf ihn geht die Disziplin der Molekulargastronomie zurück, im Rahmen derer genussfreudige Forscher der Chemie und Physik im Essen auf den Grund gehen.

Seither sind zahlreiche Bücher erschienen, die Grundwissen zu chemischen und physikalischen Vorgängen an Koch und Köchin bringen wollen und mit kleinen Tricks den immer saftigen Braten versprechen.
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Physikalische Schwierigkeiten
Besonders für Physiker sind die weichen Materialien, die unsere biologische Umwelt formen, wegen ihrer komplexen Eigenschaften eine echte Herausforderung. Ihre mathematischen Modelle können geordnete Kristalle elegant beschreiben, aber die ziemlich ungeordnete weiche Materie ist nur schwer zu erfassen. Emulsionen, Gele und Schäume blieben deshalb lange Jahre eine Domäne der Chemiker. Erst mit modernen experimentellen Methoden, leistungsfähigen Computern und neuen mathematischen Werkzeugen entdeckten die Physiker die Küche als Forschungslabor.
->   "Kulinarische Physik" an der Universität Wien (inkl. Lexikon und Rezepten)
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Alte Kochweisheiten überprüfen
Der Pionier der Molekulargastronomie, Nicholas Kurti, konnte bald im "Mekka der Feinschmecker" Frankreich einen Gleichgesinnten als Partner gewinnen: Gemeinsam mit Herve This-Benckhard, Forscher am College de France mit Schwerpunkt "Physik und Chemie des Kochens", postulierten sie als wichtigste Aufgabe der Molekulargastronomie "die Überprüfung alter Kochweisheiten".
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Sagenumwobene Majonäse
Die Majonäse ist ein wirklicher "Kochmythos": Vom Uhrzeigersinn, in dem sie gerührt werden soll, bis hin zur Mondphase oder dem Zyklusstand der Köchinnen - es gibt die abstrusesten Theorien über den Grund, warum sie manchmal gelingt und oft daneben geht. This-Benckhard versuchte in seinem Buch "Rätsel und Geheimnisse der Kochkunst" damit aufzuräumen: Es geht darum, eine Emulsion aus zwei Dingen - Eigelb und Öl - herzustellen, die sich eigentlich nicht verbinden wollen. Die wirkliche Schwierigkeit liegt laut Molekulargastronomie darin, dass die Zutaten nicht standardisiert sind, etwa was ihren Säuregrad betrifft. Deshalb verunglückt sie oft.
->   Website von Herve This-Benckhard am "College de France"
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Ananassaft als Hilfsmittel, um den Braten zart zu machen
Wirklich einig in dem, was die Wissenschaft für die Kochkunst tun darf, sind sich aber Kurti und This-Benckhard nicht. Nicholas Kurti wollte vor allem neue Instrumente entwickeln, die erfolgreiches Kochen einfacher machen:

So benutzte er laut einem kürzlich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) erschienenen Artikel Injektionsspritzen, um Schweinsbraten mit Ananassaft zu impfen, damit das darin enthaltene Enzym Bromelin die Proteine im Fleisch spaltet, wodurch der Braten besonders zart wird.

Außerdem stellte er mit Hilfe einer Vakuumpumpe Baisers her und mit Mikrowellen - in den 1960er Jahren höchst ungewöhnlich - ein innen heißes und außen kaltes Soufle. Dem französischen Gourmet gingen diese Versuche eindeutig zu weit.
High-Tech-Geräte als Kochutensilien
Mittlerweile sind High-Tech-Geräte Standard in den Küchen der Molekulargastronomen. Der theoretische Physiker Thomas Vilgis vom Max-Planck-Institut für Polymerforschung etwa zählt Rotationsverdampfer, Filtrationsmaschinen, Heizschrauben, Destillierschlangen, Temperatursonden und pH-Wert-Messer zu seinen Utensilien.
Flüssiger Stickstoff für besonders cremiges Eis
Er schwärmt von flüssigem Stickstoff, der minus 173 Grad Celsius hat. Wenn er Eiscreme herstellen möchte, gibt er die flüssige Masse in eine überdimensionale Thermoskanne, aus der der Stickstoff dampft. Das habe den Vorteil, dass die Moleküle festfrieren, bevor sie ihren optimalen Platz gefunden haben, so Vilgis gegenüber der FAZ. Dadurch würden die Eiskristalle nicht so groß und die Creme könne im Mund ohne Knirschen schmelzen.
->   Max-Planck-Institut für Polymerforschung
Der Braten als Initialzündung für die Zivilisation?

Aber nicht nur die Natur-, auch die Kulturwissenschaft hat das Kochen und die Küche entdeckt. So findet sich etwa im kürzlich erschienenen Buch "Experimente rund ums Kochen, Braten und Backen" von Georg Schwedt eine Geschichte der Entwicklung von der Kochkunst zur Lebensmittelchemie.

Dort erfährt man, dass die Erfindung des Bratens von manchen als die eigentliche Initialzündung für die Zivilisation der Menschheit gesehen wird. Mit der Erkenntnis, dass gares Fleisch besser schmeckt als rohes, habe man sich über die "tierische Vergangenheit erhoben".
Erklärung für Küchenphänomene
Auch dieses im Wiley-VCH-Verlag erschienene Buch konzentriert sich - wie der Titel schon sagt - auf Experimente, die man bei Kochen durchführen kann bzw. erklärt Phänomene, die wohl viele selbst schon erlebt haben: etwa, warum Nudeln zusammenkleben, wenn man sie in kaltes Wasser gibt und dann erst aufkocht. Oder warum Linsen schneller weich werden, wenn man ein bisschen Natron in das Kochwasser gibt.
Für eine gelungene Kreation "eine Prise Physik"
Aber auch wenn Chemie und Physik noch so viele Mysterien der Küche aufklären können, der Koch bzw. die Köchin soll durch den Wissenschaftler bzw. die Wissenschaftlerin nicht ersetzt werden.

Darin war sich auch Nicholas Kurti, Begründer der Molekulargastronomie, sicher, der einmal geschrieben hat: "Die großen kulinarischen Kreationen werden immer das Ergebnis künstlerischer Phantasie sein, gewürzt mit einer Mischung aus Empirie und Tradition - und nur mit einer Prise Physik."

Elke Ziegler, science.ORF.at, 27.3.05
->   Wiley-VCH-Verlag
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01.01.2010