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Technologie: Chance und Risiko für behinderte Menschen  
  Cyborgs sind eine Mischung von menschlichem Organismus und Maschine: Manche halten schon Radfahrer für Cyborgs - und Rollstuhlfahrer. Im Vorfeld einer Enquete, die nächste Woche in Wien stattfindet, geht die Philosophin Elisabeth List in einem Gastbeitrag der Frage nach, was neue Technologien für Menschen mit Behinderung bedeuten. Ihr Schluss: Trotz aller Chancen muss der konkrete Einzelfall entscheiden, ob es auch etwaige Risken gibt.  
Als Cyborg auf dem Weg in die Informationsgesellschaft?
Von Elisabeth List

Nichts hat das Erscheinungsbild der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten so geprägt wie die Technik und ihre Errungenschaften. Ihren Ausgang nahm diese Entwicklung mit der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert.

Die technische Entwicklung erreichte einen ersten Höhepunkt mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert und beschleunigte sich rasant bis in die Gegenwart. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts begann mit der Informatik und Kybernetik und mit den revolutionären Entdeckungen der Molekularbiologie eine neue Ära.
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Elisabeth List ist Professorin für Philosophie an der Universität Graz. Im Rahmen der Enquete: "Ohne Barrieren? Körper - Technologien - Behinderungen" hält sie einen Vortrag zum Thema.

Veranstaltungsort der Enquete: MuseumsQuartier, Ovalhalle, Museumsplatz 1, 1070 Wien. 8. April 2005, 16.30 bis 20 Uhr, Eintritt frei.
->   Enquete: "Ohne Barrieren? Körper - Technologien - Behinderungen"
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Erforschung des Lebens
Hatte sich die Technik bisher ganz und gar der Aneignung und der Beherrschung der äußeren Natur gewidmet, wendet sie sich nun der inneren Natur, dem Menschen selbst zu. Nun ging die Biologie daran, die Rätsel des organischen Lebens zu lösen.

Sie begann, die den Lebensprozessen zugrunde liegenden mikrophysikalischen und biochemischen Gesetzlichkeiten zu erklären und mithilfe von Denkmodellen aus der Kybernetik und Nachrichtentechnik die Funktionen des lebenden Organismus zu beschreiben.

Weltweit setzte ein Prozess intensiven Forschens und Experimentierens ein, um die neuen biowissenschaftlichen Erkenntnisse zu erproben und zu vertiefen.
Phantasie und Forschung
Auch die literarische Intelligenz war fasziniert von diesen Entwicklungen in den Biowissenschaften. Eine Flut von Texten der Science Fiction griff sie auf und entwarf phantastische und nicht selten bedrohliche Szenarien über die Zukunft des Menschen in einer total technisierten Welt.

Der Cyborg, der als neue Identifikationsfigur heute besonders aktuell ist, war ursprünglich ein Geschöpf der Science Fiction, aber bald auch ein Thema der Wissenschaft.

Die Bezeichnung "Cyborg" ist ein Neologismus, eine Abkürzung für den ursprünglich in einem NASA-Raumforschungsprogramm konzipierten "cybernetic organism". Der Cyborg ist der Definition nach eine Mischung oder Verbindung des menschlichen Organismus mit der Maschine.
Lungen für Fische
Die beiden Forscher Nathan S. Cline und Manfred E. Clines, die den Begriff "Cyborg" geprägt hatten, suchten nach Möglichkeiten, den menschlichen Körper für ein Überleben im Weltraum fit zu machen.

Dabei gingen sie von folgender Überlegung aus: So wie ein Fisch, der an Land überleben soll, nicht das Wasser mitnehmen kann um atmen zu können, sondern seine Kiemen gegen etwas "Lungenartiges" ersetzen muss, müsste auch der menschliche Organismus für das Verlassen seiner natürlichen Umwelt transformiert werden, um in einer lebensfeindlichen Umgebung überleben zu können - vor allem durch die Verbindung oder Vernetzung seines Körpers mit Maschinen.
Schon Radfahrer sind Cyborgs
"Vernetzung" ist bei Clines sehr weit verstanden. So sei schon der Radfahrer als Cyborg anzusehen, weil er mit der natürlichen Bewegungsfähigkeit seines Körpers nicht zufrieden ist, und ein Rad benutzt.

Clines entwickelt ein Modell der fortschreitenden Vernetzung von Mensch und Maschine mit fünf Stufen der "Cyborgisierung", wobei der Radfahrer der ersten Stufe zuzuordnen wäre.

Nach Schritten der psychologischen und biologischen Vernetzung wäre die fünfte Stufte dann erreicht, wenn sich der Geist vollständig vom Körper gelöst hat, wenn alles Organische durch Maschinen ersetzt ist.
Körperlose Existenz
Diese letzte Überlegung zeigt, dass Clines, wie auch andere Wissenschaftler in diesem Feld, sich mit den gegenwärtigen Möglichkeiten nicht zufrieden gibt und Stufen der Cyborgisierung ins Auge fasst, die weit in der Zukunft liegen, also bisher bloß vorgestellte sind, reine Phantasien.

Die meisten Leute, die heute begeistert vom Cyborg reden, denken an solche Möglichkeiten in der Regel nicht. Sie haben also eine niedrigere Stufen der Vernetzung mit der Maschine vor Augen, und nicht die von Clines beschrieben letzte Stufe der "Überwindung" des Körpers. Denn sie würde ja seine Abschaffung, seine Zerstörung bedeuten.
Realisierbar ist nicht Realität
Diese Stufe mag denkbar sein und ist ein bekannter und auch beliebter Stoff für Kino und Krimis. Aber nicht alles, was denkbar ist, ist auch wünschenswert.

Die Verfechter des "totalen Technokörpers" allerdings behaupten, dass alles technisch Denkbare unweigerlich irgendwann Realität wird. Sie bedenken dabei nicht, dass es letztlich immer eine Sache der menschlichen Entscheidung ist, der ethischen und politischen Entscheidung, wie weit man technische Eingriffe in den Körper vornehmen oder billigen will.
Chance für behinderte Menschen?
Von Bedeutung für eine solche Entscheidung ist die Frage nach dem konkreten Zweck, dem der Einsatz von Technik dienen soll. Unter diesem Gesichtpunkt ist auch die Frage zu sehen, wie man das Verhältnis von Technik und Behinderung beurteilt.

Verschiedentlich ist in der Techno-Literatur davon die Rede, dass vor allem Menschen mit Behinderungen von Technologien des Körpers, sei es durch den Einsatz von technischen Geräten oder durch Implantate, profitieren können, vor allem, wenn sich die Cyber-Technologien noch weiterentwickeln. Was ist davon zu halten?
Gezwungenermaßen Cyborg
Wenn man einen Radfahrer als Cyborg bezeichnet, dann ist natürlich auch die Rollstuhlfahrerin eine "Cyborg". Ich bin an meinen Rollstuhl nicht angewachsen, aber ohne ihn könnte ich mein Leben nicht mehr bestreiten. Ich bin so gesehen also zwar wider Willen, aber auch mit Begeisterung ein Cyborg, denn ich fahre gern mit dem Rollstuhl, wenn es gerade nicht regnet oder tiefer Schnee liegt.

Heute gibt es aber technisch noch weitaus anspruchsvollere Mittel und Geräte, die es ermöglichen, Behinderung, etwa Hörbehinderung und Sehbehinderung durch den Einsatz technischer Hilfsmittel, durch Prothesen und Implantate zu kompensieren.
Chancen und Risken
Solche Technologien sind von einem ethischen oder moralischen Standpunkt aus sicher positiv zu bewerten, weil sie keinen tief greifenden Eingriff in den menschlichen Körper bedeuten und grundlegende Dinge der menschlichen Verfassung, vor allem die Autonomie, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit von Individuen nicht gefährden, sie eher bereichern als beschränken.

Die Frage nach den Chancen und Risiken technischer Machbarkeit kann nicht abstrakt und allgemein entschieden werden, sondern nur anhand von konkreten Beispielen.
->   Biografie Elisabeth List
->   Homepage Elisabeth List, Uni Graz
 
 
 
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01.01.2010