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Geniestreiche der Evolution  
  Was waren die wichtigsten "Erfindungen" der Naturgeschichte? Die Zeitschrift "New Scientist" wagt eine Antwort: Die Mutter der evolutionären Innovationen ist die Vielzelligkeit, die ganze 20 Mal unabhängig entstanden ist. Ohne sie sähe das Leben völlig anders aus, es gäbe weder menschliche Gesellschaften noch Tiere, Pflanzen und Pilze.  
Ebenfalls aufgenommen in die Liste der Geniestreiche der Evolution wurden etwa Auge, Hirn und Sprache - und nicht zuletzt: Sex.
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Die Artikelserie "Life's Greatest Inventions" erschien in "New Scientist" (Ausgabe vom 9.4.05, S.27-35).
->   New Scientist
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Lebewesen sind Entropie-Pumpen
Die beste Erfindung des Lebens ist vermutlich das Leben selbst. Was aber ist das, Leben? Gute Frage. Die erste systematische Annäherung wurde interessanterweise von keinem Biologen sondern einem Physiker formuliert. Erwin Schrödinger versuchte 1944 in seinem Buch "What is life?" folgende Antwort:

Lebewesen stellen so etwas wie Entropie-Pumpen dar, sie degradieren hoch organisierte Materie und Energie zu minderwertigeren Formen und bauen so Inseln der Ordnung auf. Damit umgehen sie gewissermaßen den zweiten Hauptsatz der Wärmelehre, demzufolge die Unordnung, Entropie genannt, stetig zunehmen muss.

Aber sie brechen ihn nicht: Global gesehen tragen Lebewesen durchaus zur Steigerung der Entropie bei, damit gibt es auch keinen Widerspruch zwischen den Gesetzen der Physik und jenen der Biologie.
->   Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik (Wkipedia)
Keine verbindliche Definition
Aus biologischer Sicht ist die Frage weniger leicht zu beantworten: So publizierte etwa der Biochemiker J.B.S. Haldane drei Jahre nach Schrödinger ein Buch selben Titels, allein die Antwort fiel etwas zurückhaltender aus:

"I am not going to answer this question", schrieb Haldane - durchaus mit Weitblick, denn bis heute gibt es keine verbindliche Definition des Lebens, auf die sich sämtliche Fachleute einigen könnten.
Meilensteine der Naturgeschichte
Ähnlich verhält es sich vermutlich mit einer Frage, die nun das Wissenschaftsmagazin "New Scientist" aufgeworfen hat: Was sind bzw. waren die größten Durchbrüche der Evolution?

Die Redakteure der britischen Zeitschrift präsentieren nun jedenfalls zehn entscheidende "Erfindungen", die der Natur im Lauf der letzten 3,8 Milliarden Jahre gelungen sind.
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Die "Top Ten" evolutionärer Innovationen
1. Vielzelligkeit
2. Das Auge
3. Das Gehirn
4. Sprache
5. Photosynthese
6. Sex
7. (Zell-)Tod
8. Parasitismus
9. Superorganismen
10. Symbiose
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Begehrte Vielzelligkeit

An erster Stelle führt man bei "New Scientist" die Entstehung der Vielzelligkeit an. Sie ist im Lauf der Evolution vermutlich bis zu 20 Mal unabhängig entstanden, sodass heute so unterschiedliche Großgruppen wie Tiere, Landpflanzen, Pilze und Algen davon Gebrauch machen.

Doch wie ging dieser Übergang vor sich? Eine Hypothese ist, dass Zellverbände aufgrund ihrer Größe vor einzelligen Fressfeinden geschützt sind. Eine andere nimmt auf den Vorteil der Arbeitsteilung Bezug: Einzeller können sich nicht gleichzeitig teilen und fortbewegen, Kolonien mit spezialisierten Bewegungs- und Fortpflanzungszellen sind dazu sehr wohl imstande.
Einzeller dominieren trotzdem
Das bedeutet allerdings nicht, dass Größe und Komplexität immer von Vorteil sein müssen. Wie Nicole King von der University of California, Berkeley, hinweist, übertreffen Einzeller die vielzelligen Organismen auch heute noch in puncto Artenzahl und Biomasse:

"So könnte man sagen, dass das einzellige Leben das erfolgreichste ist, aber das vielzellige Leben ist eben das schönste und dramatischste."
Engstelle der Generationen
Hier gibt es einen interessanten Punkt, auf den der britische Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert und der ungarische Evolutionstheoretiker Eörs Sathmary hingewiesen haben (Nature 402, S.745). Bekanntlich beginnen die allermeisten Vielzeller ihre Entwicklung im Stadium der Eizelle, unabhängig davon, wie groß oder komplex das daraus entstehende Lebewesen auch sein mag.

Warum aber müssen Organismen durch so ein Nadelöhr? Schließlich könnte die Einheit der Reproduktion ja auch aus mehrzelligen Verbänden bestehen.

Das gibt es in der Tat: Manche Tiere - z.B. Polypen - pflanzen sich mittels Knospung fort, und Schleimpilze bilden ein Kollektiv, in dem einzelne Amöben zusammenwandern, aggregieren.

Nur haben weder die Knospung noch die Aggregation jemals wirklich neuartige Entwicklungsmuster hervorgebracht, und das ist nach Wolpert und Sathmary der entscheidende Punkt.
Nadelöhr ermöglicht Entwicklungsfähigkeit
Das Nadelöhr der Eizelle bewirkt, dass alle Zellen des Organismus die selbe genetische Ausstattung besitzen, was zum einen Interessenskonflikte innerhalb des Körpers gering hält. Zum zweiten stellt es sicher, dass koordinierte Entwicklungsprogramme entstehen und verändert werden können.

Denn das ist schon innerhalb einer Zelle bzw. eines Genoms eine recht unwahrscheinliche Angelegenheit. Noch schwieriger - weil unwahrscheinlicher - wird die Aufgabe für Mutation und Auslese, wenn verschiedene Zellen mit verschiedenen Genen als Einheit der Reproduktion auftreten.

Dieser Weg kann zwar beschritten werden, wie Nesseltiere und Schleimpilze zeigen, aber er stellt offenbar eine entwicklungsbiologische Sackgasse dar.
Evolution aus der Vogelperspektive
Zurück zum Katalog evolutionärer Durchbrüche: Die nun von "New Scientist" veröffentlichte Liste ist nicht die erste dieser Art. Bereits vor zehn Jahren publizierte erwähnter Eörs Sathmary mit seinem Fachkollegen John Maynard Smith das viel beachtete Buch "The Major Transitions in Evolution". Darin führten die beiden acht fundamentale Übergänge an, die das Phänomen "Leben" entscheidend verändern sollten.
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Die großen Übergänge
Replizierende Moleküle → Molekülpopulationen in Kompartimenten
Unabhängige Replikatoren → Chromosomen
RNA → DNA und Protein
Prokaryonten → Eukaryonnten
Asexuelle Klone → sexuelle Populationen
Protisten → Tiere, Pflanzen, Pilze
Solitäre Individuen → Kolonien
Primatengesellschaften → Kultur menschlicher Gesellschaften
->   Mehr dazu bei Wikipedia
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Umkehren verboten
Hier ging es allerdings nicht um ein "Best of" evolutionärer Erfindungen. Maynard Smith und Sathmary wiesen vielmehr darauf hin, dass sich im auf der Naturgeschichte häufig kleine Einheiten zu größeren Systemen zusammengeschlossen haben.

Das war auch schon vorher bekannt, die Pointe dabei ist jedoch: Nach diesen Übergängen verloren diese Einheiten ihre Unabhängigkeit und konnten sich nur mehr als Teil des größeren Ganzen vervielfältigen.

Das erklärt, warum sich Tiere und Pflanzen nicht in Bakterien verwandeln können, Chromosomen nicht wieder zu einzelnen Genen zerfallen: Selbst wenn das notwendig wäre, es ginge einfach nicht. Das Entscheidende an den "großen Übergängen" ist also, dass gewisse Pfade der Evolution nach dem Prinzip der Einbahnstraße funktionieren. Manchmal gibt es einfach keinen Weg zurück.

Robert Czepel, science.ORF.at, 11.4.05
 
 
 
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01.01.2010