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Austrofaschismus: Politischer Wille zur Umgestaltung  
  Der Austrofaschismus war keine österreichische "Krisenstrategie", um sich dem Nationalsozialismus in Deutschland entgegenzustellen und die Unabhängigkeit des Landes zu sichern: Die bisher umfassendste wissenschaftliche Untermauerung für diese These bietet ein eben erschienenes Buch, das einen "kritischen Beitrag" zum Gedenkjahr 2005 liefern möchte. Die Autoren sprechen von einem diktatorischen System, das die österreichische Politik, Gesellschaft und Kultur nachhaltig verändern wollte.  
Veränderung zahlreicher gesellschaftlicher Bereiche
Bild: LIT-Verlag
Der vom Politikwissenschaftler Emmerich Talos und dem Historiker Wolfgang Neugebauer herausgegebene Sammelband analysiert auf über 400 Seiten nicht nur das Selbstverständnis und die verfassungsrechtlichen sowie institutionellen Veränderungen, sondern wirft auch einen detaillierten Blick auf die wirtschaftliche und soziale Realität im Austrofaschismus.

Dadurch wird nicht nur deutlich, dass das Regime zwischen 1933 und 1938 zielstrebig zahlreiche gesellschaftliche Bereiche umstrukturierte: Vom Bildungssystem über die Stellung der Frauen bis hin zum Sport blieb kaum ein Feld unberührt.

Den Autorinnen und Autoren gelingt es auch, zahlreiche Mythen rund um eine tendenziell noch immer verklärte Zeit der österreichischen Geschichte zu widerlegen.
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Das Buch "Austrofaschismus: Politik, Ökonomie, Gesellschaft 1933-1938", herausgegeben von Emmerich Talos und Wolfgang Neugebauer, ist im LIT-Verlag erschienen.
->   Das Buch im LIT-Verlag
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Parlament und Parteien als Wurzel allen Übels
"Das Parlament hat sich selbst ausgeschaltet, ist an seiner eigenen Demagogie und Formalistik zugrunde gegangen. Dieses Parlament, eine solche Volksvertretung, eine solche Führung unseres Volkes wird und darf nie wieder kommen. Die Zeit der Parteienherrschaft ist vorbei", sagte Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in der bekannten Trabrennplatzrede am 11. September 1933.
Konkreter politischer Wille zum autoritären Umbau
Schon in diesem Zitat, das durch zahlreiche andere im Buch ergänzt wurde, sei deutlich geworden, dass der Austrofaschismus die Ausschaltung der Demokratie geplant habe, so Politikwissenschaftler Talos bei der Buchpräsentation am Donnerstag in Wien. Die Abschaffung der Demokratie, das Verbot anderer Parteien außerhalb der "Vaterländischen Front", der gesellschaftliche und ökonomische Umbau seien keine zusammenhangslosen Ereignisse gewesen:

"Dahinter steckte ein konkreter politischer Wille". Umgesetzt wurde dieser mit Unterstützung u.a. der christlich-sozialen Partei, der paramilitärischen "Heimwehren", von Unternehmen und nicht zuletzt der katholischen Kirche.
->   Mehr zur Geschichte des Austrofaschismus (Beitrag von Otto Urban, 11.2.03)
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Der Begriffsstreit
In Wissenschaft und Politik werden verschiedene Begriffe verwendet, wenn das österreichische politische System 1933-1938 bezeichnet werden soll: "Autoritäres System" wird ebenso gebraucht wie "Regierungsdiktatur", "Klerikal-Faschismus" oder eben Austrofaschismus.

Die Autoren des neuen Buchs plädieren für letztere Bezeichnung, weil sie das Gesamte und nicht nur die politisch-institutionelle Dimension des Herrschaftssystems meint, die Ähnlichkeiten zu Veränderungen in Italien und Deutschland ausdrückt, aber dennoch auf die spezifisch österreichischen Bedingungen und Ausprägungen verweist.
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Frauenpolitik: Reduzierung auf Mutter und Hausfrau
Wie umfassend die Veränderungen waren, illustrierte bei der Präsentation die Historikerin Irene Bandhauer-Schöffmann am Beispiel der Frauenpolitik. Ideologisch und durch Gesetze wurde die Rolle der Frau wieder auf das Bild der katholischen Mutter und Hausfrau reduziert. So findet sich schon in der am 1. Mai 1934 beschlossenen Verfassung der Hinweis, dass eine Ungleichbehandlung von Frauen und Männern per Gesetz erlaubt sei.

Gleich zu Beginn des Austrofaschismus verlor ein Teil der Frauen auch wieder das Wahlrecht, das sie 1919 bekommen hatten: Wahlberechtigt waren nur mehr die Berufsbürger, d.h. jene Österreicher/innen, die außer Haus berufstätig waren - was auf den Großteil der Frauen nicht zutraf. "Die Ungleichbehandlung existierte damit nicht nur 'de facto', sondern auch 'de jure'", so Bandhauer-Schöffmann.
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"Staatsnonnen" wieder eingeführt
Besonders krass schlug sich die Ungleichbehandlung, mit der die Gesellschaft dem von der Kirche propagierten Ideal der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau näher rücken sollte, im Staatsdienst nieder.

Mit der "Doppelverdienerverordnung", die 1933 erlassen wurde und die Berufstätigkeit von Frauen "im Sinn des Familien- und Kindeswohls" einschränken sollte, wurden auch verheiratete Frauen wieder aus dem Staatsdienst ausgeschlossen. Wie auch schon vor 1918 war es nur mehr unverheirateten Frauen möglich, den Beruf der so betitelten "Staatsnonne" auszuüben.
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Diskussion über das "Aussterben der Österreicher"
Aus dem heutigen Blickwinkel beinahe amüsant mutet auch die Diskussion vom "Aussterben der Österreicher" an. Wie Irene Bandhauer-Schöffmann in ihrem Buchbeitrag beschreibt, wurde schon in den 1930er Jahren darauf hingewiesen, dass zu wenige Kinder auf die Welt kämen.

Das wurde nicht mit der sich verschlechternden sozialen Absicherung der Menschen generell, sondern mit dem modernen, nicht katholischen Lebensstil begründet, in den Kinder nicht passen würden.
Frauenpolitik brachte keine Entlastung am Arbeitsmarkt
"Die Verordnung war rein eine ideologische Maßnahme, die Frauen auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau reduzieren sollte, die aber keine Erleichterung am Arbeitsmarkt brachte, wie offiziell behauptet wurde", stellt die Historikerin fest.

Nicht nur der Mythos von der Frauenkonkurrenz am Arbeitsmarkt, der der Austrofaschismus habe gegensteuern wollen, wird im Buch widerlegt, sondern auch zahlreiche Überlieferungen: So war das austrofaschistische Österreich entgegen dem Selbstbild kein sozialer Staat. Soziale Errungenschaften wie die Pensions- und Arbeitslosenversicherung wurden reduziert bzw. abgeschafft. Das Ziel, den "Klassenkampf zu beseitigen", verfolgte das Regime etwa mit umfassenden Streikverboten.
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Ständestaat nur unvollständig realisiert
Auch die Bezeichnung als "Ständestaat" müsse man hinterfragen, hielt Politikwissenschaftler Emmerich Talos fest. Der berufsständische Umbau sei ein "schwaches Torso" geblieben, der in erster Linie die Ausschaltung der Interessenorganisationen zustande gebracht hatte und die Konflikte zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft überdecken wollte.
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Unterbelichtete Aktivitäten der illegalen NSDAP
Ebenfalls nur unterbelichtet dargestellt seien die Aktivitäten der damals illegalen NSDAP in Österreich, kritisierte auch der Historiker Winfried Garscha vom Österreichischen Dokumentationsarchiv.

Entgegen dem Selbstbild, dass die meisten der NSDAP beigetreten seien, weil die Wirtschaft in Österreich schlecht und die Arbeitslosigkeit hoch war, zeigt die Analyse, dass nur ein Drittel der NS-Anhängerschaft arbeitslos war. Motiv Nr. 1 unter den Beitretenden war die Hoffnung auf einen schnelleren sozialen Aufstieg.
Kritischer Beitrag zum Gedenkjahr 2005
Dass das Buch gerade heuer erscheint, begründen die Herausgeber damit, dass sie einen kritischen Beitrag zum Gedenkjahr 2005 leisten wollen.

Hätte der Austrofaschismus das Land länger geprägt, wäre das Bild Österreich heute ein ganz anderes, als es in diesem Jubiläumsjahr gefeiert wird, gab Herausgeber Talos zu bedenken.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 8.4.05
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Gedenkjahr 2005
In loser Folge erscheinen in science.ORF.at redaktionelle Texte und Gastbeiträge zu dem Schwerpunkt "Gedenkjahr 2005". Bisher erschienen:
Gedenkjahr: Widerstand an den Unis vor 60 Jahren (4.4.05)
Otto Urban: Vor 65 Jahren "endgültige" Liquidierung Österreichs (30.3.05)
Michael John: Neo-Mythologisierung der Zeitgeschichte (18.3.05)
Materieller und geistiger Wiederaufbau Österreichs (16.3.05)
Siegfried Mattl: Beglaubigte Geschichte (9.3.05)
Die ursprünglichen Pläne von "25 Peaces" (28.1.05)
Österreich würdigt Widerstand in der Nazi-Zeit (19.1.05)
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->   Österreichisches Dokumentationsarchiv des Widerstandes
Mehr zum Austrofaschismus in science.ORF.at:
->   70 Jahre Februarkämpfe: "Unvermeidliche Logik des März 1933" (11.2.04)
->   Mussolini finanzierte die Heimwehr großzügig (20.2.03)
 
 
 
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01.01.2010