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Papst-Begräbnis: Zur Psychologie der Pilger  
  Anlässlich des Begräbnisses von Papst Johannes Paul II. strömen Millionen Pilger nach Rom. Nicht aus theologischer, sondern aus psychologischer Sicht stellt sich die Frage, warum die Menschen die Strapazen auf sich nehmen. Psychologen glauben an ein Bündel von Motiven - das vom "Dabeisein an einem historischen Tag" bis zum "Nachholen persönlicher Trauer im Kollektiv" reicht.  
Bewusste Motive: Religiosität, "ein historischer Tag"
Felix de Mendelssohn ist Psychoanalytiker in Wien. Aus seiner Sicht sind es nicht unbedingt extrem gläubige Menschen, die jetzt nach Rom gepilgert sind.

"Bei vielen wird es meiner Einschätzung nach ihr Glaube sein und sie werden das als bewusstes Motiv vorgeben und wir werden es auch annehmen können - aber bei vielen nicht. Ich bin sicher, wenn man viele befragt, dann werden viele sagen: Es ist ein wichtiger Tag, er war ein bedeutender Mann, ich bin gar nicht religiös, aber man muss dabei gewesen sein.", so Mendelssohn.

Diese bewussten Motive würden auch zählen, aber sie erklären ihm zufolge nicht das darunter liegende Phänomen.
... und unbewusste Motive: "Vereint sein wollen"
"Religiosität, ein historischer Tag, ein großer Mann" - für viele genug Motive, um hunderte Kilometer zu reisen, Warteschlangen und notdürftigste Versorgung auf sich zu nehmen. Doch für Mendelssohn gibt es auch unbewusste Motive.

Dabei zitiert er Sigmund Freud: "Das Bedürfnis vereint zu sein - miteinander und mit einem Ich-Ideal oder mit einem Ideal-Ich - eine Figur, die eigentlich Frieden schafft, für alle die dort beisammen sind."
Verkörpert Ideale, bietet Identifikationsmöglichkeit
Die Pilger fühlen sich aus Sicht des Psychoanalytikers sowohl mit den Millionen Gleichgesinnten vereint, als auch mit Papst Johannes Paul dem Zweiten: gemäß der Massenpsychologie eine Person, die Ideale verkörpert, die man selbst voraussichtlich nie erreichen kann.

In einem Ereignis mit einer zentralen Figur stellt die Figur laut dem Psychoanalytiker etwas dar, womit alle sich identifizieren können und garantiert, dass derart viele Menschen an einem Platz miteinander auskommen können - sei es nun der Papst oder ein Rock-Star.

Und das obwohl bei Menschenmengen normalerweise Desorientierung, Angst, Aggressivität und Rivalität herrschen.
Funktion und Person mobilisieren
Dabei spiele nicht nur das Symbol (die Figur des Papstes) eine Rolle, sondern auch die charismatische Person Karol Wojtyla, meint Mendelssohn:

"Immerhin ist er ein sehr lang regierender Papst, wo diese Gefühle über lange Zeit entstehen konnten. Es muss auch mit seiner Persönlichkeit zu tun haben, dass er so viel herumgereist ist, dass er so bekannt war etc."
Chance, verhinderte Trauer nachzuholen
Mit dem Papst sei eine Vaterfigur gestorben, ist die Psychologin, Psychotherapeutin und Assistentin an der Uni Klagenfurt, Barbara Preitler, überzeugt. Für die meisten Pilger eigentlich kein streng genommen persönlicher Verlust, denn nur wenige Menschen haben ihn persönlich gekannt.

"Aber er hat viel verkörpert und daran lässt sich viel kollektive Trauer festmachen. In dem Sinn, dass Menschen sehr oft in Situationen sind, in denen sie nicht wirklich um Verlorenes trauern können. Ein derart mediales kollektives Ereignis gibt die Chance, verhinderte Trauer ein Stück weit nachzuholen."

Und das gemeinsam mit anderen, so Barbara Preitler. Etwas, das man nur in Rom erleben kann und nicht zu Hause vor dem Fernseher.

Barbara Daser, Ö1-Wissenschaft, 8.4.05
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01.01.2010