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Islam im Internet: Fatwa, Politik und Heiratsagenturen  
  Der Wiener Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker beobachtet seit Ende der 80er Jahre, wie das Internet in islamischen Staaten, aber auch von westlichen moslemischen Communitys verwendet wird. Seine Zwischenbilanz: Das neue Medium hat Splittergruppen zu ungewohnter Aufmerksamkeit verholfen, während die wirklich zahlreichen Zugriffe "profane" Einrichtungen wie Heiratsagenturen und Einkaufsführer verzeichnen.  
Anteil fundamentalistischer Website nicht gewachsen
Das moslemische Angebot im Internet zu beobachten, liefert einen Einblick nicht nur in das Selbstverständnis der islamischen Welt, sondern lässt auch auf politische Entwicklungen schließen, begründet Lohlker sein Interesse für das Forschungsthema. science.ORF.at lässt der am Institut für Orientalistik der Universität Wien forschende Wissenschaftler einen Blick in seinen umfangreichen Link-Katalog werfen.

Aufgrund der Beobachtung kann er auch gängige Vorurteile entkräften: So sei der Anteil fundamentalistischer Websites seit den Anschlägen auf das "World Trade Center" am 11. September 2001 nicht gewachsen. Die meisten Sites habe es vorher schon gegeben, aufgrund fehlender Sprachkenntnisse waren sie von westlichen Geheimdiensten aber unbeobachtet geblieben.
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"Moslemisches" Internet: Wurzeln in den USA
Begonnen hat alles in den 1980er Jahren in den USA. Eine der ersten Websites wurde dort von der "Muslim Students Association" online gestellt. Migranten nutzten das gerade erst entstehende Medium, um Texte zu publizieren und Mailinglisten aufzubauen. Unter den islamischen Staaten gehören südostasiatische Länder wie Malaysien und Indonesien zu den Pionieren.

Früh im Internet zu finden waren auch pakistanische Websites, unter denen ab 1992/93 die ersten fundamental-islamistischen Online-Auftritte zu beobachten waren. In die arabischen Staaten wurde das Internet von außen getragen, indem Migranten ihr Wissen in die Heimatländer mitbrachten oder an Verwandte und Freunde weitergaben.
->   Muslim Students' Association of the United States and Canada
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Heute alle Strömungen präsent
Parallel zur allgemeinen Verbreitung des Internet braucht auch die islamische Präsenz einige Jahre, um über die Wissenschaft hinaus zu dringen und auch Unternehmen, Organisationen und Einzelpersonen einzubeziehen.

Die heute bekannten Institutionen wie die einflussreiche Al Azhar-Universität in Kairo oder die "Muslim World League" sind erst seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im Internet präsent. Heute sind laut Lohlker alle wesentlichen Strömungen vertreten.
->   Mehr zur Al Azhar-Universität bei Wikipedia.org
Internet-Cafes verbreitern Basis der User
Zugang zum Internet haben in moslemischen Staaten bei weitem nicht alle Menschen, auch wenn Lohlker von einer Verbreiterung der Basis in den vergangenen Jahren spricht. Besonders die in Großstädten boomenden Internet-Cafes hätten dazu geführt, dass immer mehr Menschen online gehen.

Auch wenn das Internet - wie im "Westen" - ein männlich dominiertes Medium ist, steigt seit 2000 in moslemischen Ländern der Frauenanteil. Sie treten vermehrt als Produzentinnen auf, teilweise auch mit feministischen und islamkritischen Inhalten wie die Site "Women living under Muslim laws".
->   Women living under Muslim laws
Minderheiten machen auf sich aufmerksam
Die subversive Wirkung des Internets könne in moslemischen Staaten trotz der Kontrollversuche der Regierungen beobachtet werden, so Lohlker. Besonders Saudi Arabien, Tunesien und Lybien hätten sich mit Blockadeversuchen hervorgetan. Trotzdem gelinge es Oppositionellen aber immer wieder, ihre Anhängerschaft über das Internet mit Informationen zu versorgen.

Teilweise nutzten auch Minderheiten das Netz, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Besonders bekannt und umstritten ist die Website "Queer Jihad", die die Beziehung zwischen dem Islam und Homosexualität thematisiert.
->   "Queer Jihad"
Propaganda- und Vernetzungseffekt
Generell warnt Lohlker aber davor, die Bedeutung des Internet bei politischen Aktivitäten zu überschätzen. "Es hilft dabei, Inhalte und Propaganda zu verbreiten." Besonders die Websites von Jihadisten ("Jihad" wird im Westen gemeinhin als "Heiliger Krieg" von Moslems gegen "Ungläubige" verstanden) würden heute umfassendes religiöses und politisches Material online bieten.

Der Propaganda- und Vernetzungseffekt wäre aber auch mit anderen Mitteln zustanden gekommen, meint Lohlker, und weist auf den gut ausgebauten Vertrieb von Audio- und Videokassetten hin.
Heute diskutierte Websites gab es schon vor 9/11
Nach den Anschlägen am 11. September 2001 auf das "World Trade Center" in New York habe zwar die Anzahl jihadistischer Websites zugenommen. Lohlker meint aber, dass der Anteil fundamentalistischer Sites in Relation zum generell wachsenden Internet nicht angestiegen sei.

Viele der jetzt in den Blickpunkt gerückten Websites habe es auch schon vor 9/11 gegeben, sie seien aufgrund fehlender Fremdsprachenkenntnisse aber nicht von den Geheimdiensten beachtet worden.
Praktische Angebote werden am meisten genutzt
Trotz der Möglichkeiten, über das Internet politisch aktiv zu werden, sind es doch die praktischen Angebote, die die mit Abstand höchsten Klickraten aufweisen: Heiratsagenturen etwa stehen nach Einschätzung von Islamwissenschaftler Lohlker hoch im Kurs.

Ebenfalls gern abgefragt werden Einkaufsführer mit Hinweisen, wo man religionskonforme "Halal-Lebensmittel" kaufen kann, und Serviceseiten, auf denen sich etwa Gebetszeiten finden. In den vergangenen Jahren massiv zugenommen haben auch Diskussionsforen und Weblogs, deren Inhalte breit gestreut sind.
->   Halal-gemäßes Essen und Trinken im deutschsprachigen Raum
Online-Rechtsgutachten
Ebenfalls in das Internet transferiert wurde die "Fatwa": Darunter versteht man religiöse Rechtsgutachten, die Moslems beim Leben in der modernen Gesellschaft helfen sollen.

Solche Fatwas können mittlerweile an vielen Stellen per e-Mail oder sogar in Live-Chats eingeholt werden, Online-Fatwa-Archive beantworten zahlreiche Fragen.
->   Fatwa-Sitzungen auf Islam-Online.net (englisch)
Trend zu Multimedialität
Als aktuellen Trend in der islamischen Welt im Internet sieht Rüdiger Lohlker die zunehmende Multimedialität. Durch den Ausbau der Bandbreite sei es immer mehr Menschen möglich, sich auch Audio- und Videosequenzen auf den eigenen PC zu laden. Religionsausübung ist immer weniger an physische Präsenz gebunden.

"Das Internet ist Teil einer Bewegung, die es immer mehr Individuen erlaubt, Verantwortung für ihre Religion, deren Ausdrucksformen und auch den Umgang mit ihren Texten zu übernehmen", analysiert Rüdiger Lohlker. In diesem Sinn könnte man auch von einer demokratisierenden Wirkung des neuen Mediums sprechen.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 14.4.05
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Serie "Global Science"
science.ORF.at lädt mit der Serie "Global Science" zu einer wissenschaftlichen Weltreise. Im Mittelpunkt der unregelmäßig erscheinenden Beiträge stehen Länder und Regionen stehen, von deren Wissenschafts- und Forschungslandschaft man in Österreich nur selten liest. Der nächste Zwischenstopp wird der Iran sein.
Bisher erschienen: Indien: Wissensmacht des 21. Jahrhunderts? (16.3.05)
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->   Institut für Orientalistik der Universität Wien
->   Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich
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01.01.2010