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Geschichte als Projekt mit "Open End"  
  Geschichte wird gern an Personen und einzelnen Ereignissen festgemacht und als "Faktum" präsentiert. Die fragende und erklärende Perspektive gerät dabei oft ins Hintertreffen. Die Politologin Sieglinde Rosenberger weist in einem Gastkommentar auf das Potenzial hin, das die Betrachtung der Zweiten Republik als sich wandelndes Projekt eröffnet.  
60 Jahre Zweite Republik
von Sieglinde Katharina Rosenberger

Vergangenheit ist nichts Endgültiges, im Gegenteil, sie wird immer wieder neu verhandelt, neu erzählt, durch Symbole verstärkt, durch Facetten, die als Ganzes dargestellt werden, verrückt. Geschichte ist, die fragende und erklärende Perspektive auf Entwicklungen, Verläufe, Prozesse zu legen.
Schulbücher spiegeln unterschiedliche Wahrnehmungen
Ein recht anschauliches Beispiel, das die politisch-instrumentelle Konstruiertheit von Geschichte belegt, sind etwa Schulbücher für den Geschichtsunterricht. Eine kürzlich erschienene wissenschaftliche Untersuchung vergleicht die Darstellung von wichtigen Ereignissen der US-Geschichte in den Geschichtsbüchern acht verschiedener Länder.

Beim Lesen dieses Buches "History Lessons" (Dana Lindaman und Kyle Ward, 2004) werden die unterschiedlichen (politischen) Schlussfolgerungen, die aus der jeweiligen Darstellung geschichtlicher Ereignisse gezogen werden, deutlich. Es entsteht sogar der Eindruck, dass die "Geschichten" nicht über die gleiche Welt, sondern über unterschiedliche berichten.
Historisches Ereignis wird symbolisch zugespitzt
Jubiläen oder gar ein ganzes Jubiläumsjahr sind häufig Anlass, Geschichte herzustellen - insofern als ein historisches Ereignis aufgegriffen und dieses symbolisch zugespitzt kommuniziert wird.

In Österreich wird in diesem Jahr anhand von drei Jahreszahlen - 1945, 1955, 1995 - versucht, eine Geschichte der Zweiten Republik ins breitere gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken.
Konzentration auf Symbole des Staatsvertrags
Dabei ist eine Verdichtung der historischen Bezugnahme auf 1955, auf die Unterzeichnung des Staatsvertrages zu beobachten. Nicht nur unter dem politisch-instrumentellen, sondern auch unter dem Vermittlungs- und Kommunikationsaspekt eignen sich singuläre Ereignisse mit hohem Symbolgehalt (Unterzeichnung) unter Verwendung bekannter Orte (Balkon), populärer Personen (Politikern) und sozialisationsfähiger Sätze ("Österreich ist frei") für die Hereinholung von Geschichte in den öffentlichen Raum.
Bruch zu Prinzipien moderner Gesellschaften
Dass dieser Zugang der Tradition der Darstellung von Geschichte als einer Geschichte von großen Männern und wichtigen (kriegerischen) Entscheidungen entspricht, ist an sich nicht überraschend, stellt aber einen Bruch zu sonstigen Prinzipen moderner Gesellschaften dar.

Zweifelsohne gelingt es Jubiläen und Feierlichkeiten, breitere Sensibilisierung für politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zu erzeugen und Interesse für Aspekte des kollektiven Geworden-Seins eines nationalstaatlichen Gebildes, wie es Österreich darstellt, zu fördern.

Ein anderer, möglicherweise massenmedial weniger transportfähiger Zugang zur Geschichte ist, die fragende und erklärende Perspektive auf Entwicklungen, Verläufe, Prozesse zu legen.
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1945: Institutioneller Bruch
Die Zweite Republik feiert in diesem Monat Geburtstag - sie hat ein Beginndatum, nämlich ihre Ausrufung am 27. April 1945, mit welcher sie sich vom nationalsozialistischen Terrorregime abhebt.

60 Jahre Zweite Republik bringen also fürs erste den institutionellen Bruch mit dem Nationalsozialismus zum Ausdruck. Die Konstituierung eines Parlaments, die Einsetzung einer Regierung, die Durchführung von Wahlen zu verschiedenen Vertretungseinrichtungen bringen Vorstellungen von individueller Freiheit und politischer Gleichheit der Menschen zum Ausdruck.
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Geschichte als bis in die Gegenwart reichendes "Projekt"
Den Blick auf 60 Jahre Zweite Republik, also auf eine Zeitspanne, zu richten, bedeutet aber weiters, österreichische Vergangenheit nicht mit Hilfe einer Urkunde zum Bild zu verdichten, sondern Geschichte als ein "Projekt", das in die Gegenwart reicht und vermutlich in der Zukunft andauert, zu analysieren.
Wandel und Konflikte rücken in den Blickpunkt
Dieser periodische Zugang erlaubt es, die Zweite Republik als ein politisches und gesellschaftliches Phänomen zu betrachten, das sich aus Wandel und Konflikten, aus Brüchen und Kontinuitäten, aus Erfolgen und Skandalen speist.

Eine solche Betrachtungsweise erlaubt es auch, nicht nur Ergebnisse staatlich-institutionellen Handelns - großer Männer - zu fokussieren, sondern Spannungen und Widerstände, Unterschiede und Gegenbewegungen zu betrachten.
Politik als Meinungsverschiedenheit
Unterschiedliche Interessen und Machtkonstellationen gehen dabei nicht in einem homogenisierenden Konzept von "Österreich" auf, sondern republikanische Momente von Österreich rücken in den Fokus des Interesses.

Politik taucht als das auf, was sie (vor allem oder auch) ist, nämlich die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Meinungen, Interessen und Gruppen, kurzum die Aushandlung sozialer und politischer Konflikte um divergierende Vorstellungen von Gesellschaft und Politik.
Auch Gesellschaft und soziale Entwicklungen analysieren
Und schließlich erlaubt die Konzeptualisierung von Zweite Republik als Zeitspanne die Reflexion nicht nur von Regierungsakteuren, sondern auch von Gesellschaft und sozialen Entwicklungen in der Gesellschaft.
Was hat Österreich mit der Freiheit gemacht?
Selbstverständlich beinhaltet die Betrachtung von "60 Jahre Zweite Republik" als Zeitspanne den Staatsvertrag als eine wichtige, entscheidungsweisende Station eben dieser Republik.

Das Ereignis wird aber kontextualisiert und wirft dadurch unter anderem die Frage auf, was Österreich mit der im Jahre 1945 und im Jahre 1955 gewonnen Freiheit machte, wie politische Freiheit genutzt wurde, um politische und gesellschaftliche Demokratisierung zu gestalten.

Sieglinde Katharina Rosenberger, 15.4.04
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Zur Autorin
Sieglinde K. Rosenberger ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Obfrau des "Demokratiezentrum Wien". Ihre Forschungsschwerpunkte sind österreichische Politik sowie Geschlechter- und Demokratieforschung.
->   Website von Sieglinde K. Rosenberger
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Dreiteilige Veranstaltungsreihe an Uni Wien
Die in diesem Text aufgeworfenen Fragen werden bei einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe unter dem Titel "60 Jahre Zweite Republik" von 18.-20. April an der Universität Wien diskutiert.
->   Alle Informationen zur Veranstaltung in science.ORF.at
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->   Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien
->   Demokratiezentrum Wien
 
 
 
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01.01.2010