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Jean-Paul Sartre: Kritische Analyse zum 25. Todestag  
  Wie kaum ein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts verkörperte Jean-Paul Sartre den Typus des engagierten Intellektuellen, der die Freiheit des Menschen als zentrales Anliegen betrachtete. Vor 25 Jahren, am 15. April 1980, starb die Leitfigur des Existenzialismus in Frankreich.  
Er verstand sein Leben als permanente Revolte gegen jegliche Autorität; sein Anliegen war es, "für eine bessere Welt" zu kämpfen. Seine philosophische Maxime lautete: Es kommt darauf an, etwas aus dem zu machen, wozu man gemacht wurde.
Vielfache Würdigungen des "Jahrhundert-Menschen"
Anlässlich seines 25. Todestages und des 100.Geburtstages wird der "Jahrhundert-Mensch" Sartre - so Bernard Henri Levy in seiner viel beachteten Sartre-Biografie - entsprechend gewürdigt.

Symposien und Ausstellungen in Paris, Berlin, München und Wien widmen sich dem philosophischen Werk, den Romanen, Essays und Dramen des französischen Meisterdenkers.
Schattenseite: Verherrlichung von Gewalt und Totalitarismus
Der "Jahrhundert-Mensch Sartre" - der Kämpfer für die Freiheit, der die Emanzipation des Menschen von religiösen und ideologischen Zwängen propagierte - weist auch eine erschreckende Schattenseite auf.

Die Biografien von Levy und Annie Cohen-Solal beschreiben, wie er das Anliegen, "mit der Feder für eine bessere Welt zu kämpfen" mit der Verherrlichung von Gewalt und linkem Totalitarismus verband.
Beeindruckt vom Marxismus stalinistischer Prägung
Dieser Kampf verlief in verschiedenen Phasen, in denen Sartre extreme politische Positionen einnahm, die heute schwer nachzuvollziehen sind. Nach seinem Abschied vom Existenzialismus wandte er sich dem dogmatischen Marxismus stalinistischer Prägung zu.

Bei einer Reise durch die Sowjetunion zeigte sich Sartre von den Pionierlagern beeindruckt, in denen "Kinder vor großen Stalinporträts tanzten und vergnügt waren".
Eloge auf Fidel Castro
Eine Reise nach Kuba im Frühjahr 1960 führte ebenfalls zu erstaunlichen Einsichten: "Das aus der kubanischen Revolution hervorgegangene Regime ist eine direkte Demokratie".

Sartre mutierte zum Bänkelsänger der kubanischen Revolution und sah in Fidel Castro einen wahren Humanisten.
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Sartre über Castro
"Ich habe Fidel inmitten seiner Kubaner gesehen; die Kubaner waren einer nach dem anderem eingeschlafen, aber Castro vereinte sie in einer einzigen durchwachten Nacht: der nationalen Macht, seiner Nacht".
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Für Gewalt gegen französischen Kolonialismus
1961 verteidigte Sartre im Vorwort des Buches "Die Verdammten dieser Erde", das der algerische Freiheitskämpfer Frantz Fanon verfasste, den Einsatz von Gewalt gegen die französische Kolonialherrschaft. Er ging sogar so weit, brutale Morde zu rechtfertigen.
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Sartre zum Kolonialismus
"Einen Europäer zur Strecke zu bringen, heißt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, nämlich einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus dem Weg zu räumen. Übrig bleiben ein toter und ein freier Mann".
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Bündnis mit militanten Maoisten
Sartres Eintreten für Gewalt erreichte in den postrevolutionären Jahren nach 1968 seinen Höhepunkt. Er verbündete sich mit den militanten Maoisten und fungierte als Herausgeber der maoistischen Zeitschrift "La Cause du peuple".

Darin konnte man Aufrufe lesen, "die Bosse bluten zu lassen", ihnen bei lebendigem Leib "das Fell abzuziehen" wie den Schweinen, "die sie sind". Sartre zeigte sich von der Brutalität der Wortwahl zwar unangenehm berührt, in der Sache selbst stimmte er mit den Maoisten überein.
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Sartre über den Maoismus
"Ein revolutionäres Regime muss sich einer gewissen Anzahl von Individuen, die es bedrohen entledigen. (...). Wahrscheinlich haben die Revolutionäre von 1793 nicht hinreichend viele getötet".
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Sartre und die Rote Armee Fraktion
Diese Äußerungen erinnern an die Texte der Roten Armee Fraktion, die ebenfalls vom Dualismus "entweder Mensch oder kapitalistisches Schwein" ausgingen.
1974 kam es dann zur Begegnung Sartres mit Andreas Baader, dem Mitbegründer der Roten Armee Fraktion im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim.

Nach den Informationen von Daniel Cohn-Bendit verteidigte Baader Attentate, Geiselnahmen und Morde als gerechtfertigte Mittel, um den verhassten Imperialismus zu bekämpfen.
Distanzierung von Ermordung Drenkmanns
Sartre empfand kaum Sympathie für Baader, wie er Cohn-Bendit mitteilte. Er weigerte er sich jedoch, Baader als Kriminellen zu bezeichnen, beklagte sich über die unmenschliche Isolationshaft und zeigte Verständnis für gewisse Positionen der Roten Armee Fraktion.

Die Todesschüsse auf den Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann bezeichnete er jedoch als Verbrechen.
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Sartre über Andreas Baader
"Aus meiner Aprori-Sympathie für die Linke sage ich, dass Baader versucht hat, eine andere Gesellschaft herbeizuführen; diese Position scheint mir nicht skandalös".
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"Beunruhigender Sartre"
Fazit von Bernard-Henri Levy: "Das ist ein anderer Sartre, ein beunruhigender Sartre, der, je nachdem, Erschrecken, Verblüffung und Abscheu hervorrufen mag - und der jedenfalls unverständlicher ist als je zuvor".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 15.4.05
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Literaturtipps
Bernard-Henri Levy: Sartre. Der Philosoph des 20.Jahrhunderts, Hanser Verlag

Annie Cohen-Solal, Sartre 1905-1980, Rowohlt Verlag
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01.01.2010