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Hausnummern als Symbol der Aufklärung  
  Die Aufklärung hat sich ambivalent vollzogen: Diese bekannte Tatsache zeichnet der Historiker Anton Tantner, derzeit Junior Fellow am IFK in Wien, anhand der Geschichte von Hausnummern nach. In einem Gastbeitrag beschreibt er, wie es vor über 200 Jahren zu dieser "Adressierung der Stadt" gekommen ist und welche Konsequenzen sich ergaben.  
Die Adressierung der Stadt

Von Anton Tantner

In den Jahren 1770/71 wurde in der Habsburgermonarchie die Hausnummerierung eingeführt. Diese Bestimmung betraf die böhmischen und österreichischen Länder mit Ausnahme Tirols und Vorderösterreichs, wo die Nummerierung bereits wenige Jahre zuvor, nämlich 1767 durchgeführt wurde.

Es waren vorwiegend militärische Gründe, die die Einführung der Hausnummerierung bedingten; die Nummerierung sollte, ganz genauso wie eine gleichzeitig durchgeführte Volkszählung - eine so genannte "Seelenkonskription" -, der Vorbereitung eines neuen Rekrutierungssystems dienen und hinkünftig den Zugriff auf die männlichen wehrfähigen Untertanen erleichtern.
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Vortrag am IFK
Anton Tantner spricht über die "Adressierung der Stadt" am Montag, 18. April 2005, um 18 Uhr c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Reichsratsstraße 17, 1010 Wien).
->   IFK
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Bürger und Adel wurden gleich behandelt
Bild: Anton Tantner
Nummeriert wurde nicht etwa, wie heute, straßenweise, sondern ortschaftsweise. Jede Ortschaft wurde extra von eins an durchnummeriert, auf die Besitzverhältnisse der Häuser war dabei keine Rücksicht zu nehmen: "Alle Häuser, sie mögen frey oder bürgerlich seyn, müssen in einer Reyhe fortnumeriert werden."

Die Hausnummerierung hatte somit auch demokratische Aspekte, denn adlige Häuser bekamen genauso eine Nummer verpasst wie bürgerliche, eine Gleichmacherei, die manchen Adligen gar nicht recht war.
Widerstand gegen ...
Aufgrund der militärischen Verwendung der Hausnummerierung verwundert es nicht, dass es Widerstand gab, der sich tätlich gegen die Hausnummern als neu angebrachte Symbole des Staats richtete.

So wurden in Lytomisl in Böhmen vermutlich in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1770 die Nummern von 14 Häusern - "theils mit Koth verschmehret, theils aber mit einem Eysernen zeig ausgekratzet"; die Täter konnten nicht ausfindig gemacht werden.
... die Symbole des Staats

Ähnliches ereignete sich auch in Iglau in Mähren, dort traf es gar die Nummer 1: In der Nacht vom 29. auf den 30. April 1771 wurde der "an der Capuciner-ClosterMauer bezeichneten Nro 1° dergestalten mit Unflath angeworfen, daß selbter gäntzlich unkehnbahr geworden".

Der Kreishauptmann ließ daraufhin sofort mit Trommelschlag die Bewohnerinnen und Bewohner dazu aufrufen, die "Bösewichter" zu verraten, versprach als Belohnung dafür zehn Reichstaler und die Wahrung der Anonymität; auch hier blieb der Aufruf zur Denunziation folgenlos.
Diskriminierung der "Juden Häuser"
Besondere Bestimmungen galten für die so genannten "Juden Häuser", das heißt Häuser, bei deren Eigentümern es sich um Juden handelte, was im Wesentlichen nur in den böhmischen Ländern möglich war.

Diese Häuser waren extra zu nummerieren, und für sie waren nicht die "teutschen", sondern "römische", lateinische Zahlenzeichen zu verwenden, womit die scharfe Trennlinie, die zwischen den so genannten christlichen und jüdischen Seelen gezogen war, noch einmal unterstrichen wurde.

Der gelbe Fleck, den in Prag Jüdinnen und Juden damals auf ihrer Kleidung zu tragen hatten und der erst 1781 abgeschafft wurde, wurde damit auch an ihre Häuser geheftet.
Ein Phänomen des 18. Jahrhunderts
Bild: Anton Tantner
Das große Unternehmen der Hausnummerierung ist charakteristisch für das 18. Jahrhundert, jenes Jahrhundert der Aufklärung, das von Ordnung und Klassifikation geradezu besessen ist.

Die Welle der Hausnummerierung setzt in Europa zur Jahrhundertmitte ein: 1750 werden die Häuser Madrids nummeriert, 1754 ist Triest an der Reihe. Aus 1762 und 1765 datieren Anordnungen, die in London die Hausnummerierung einführen, und so geht es weiter, Stadt für Stadt.

Die französischen Provinzstädte kommen 1768 dran, München 1770, Mainz 1771. Genf erlebt die Nummerierung 1782, das österreichisch beherrschte Mailand gleichzeitig mit Ungarn 1786. In letzterem Land scheitert die Nummerierung zunächst allerdings am Widerstand des Adels.
Französische Revolution beschleunigt Prozess
Die Französische Revolution ist auch was die Hausnummern anbelangt von europaweiter Bedeutung, die Revolutionskriege werden die Hausnummerierung in viele Städte Deutschlands, der Schweiz und in die Niederlande bringen, wo die Häuser zur Erleichterung der Militäreinquartierung nummeriert werden.

Verhältnismäßig spät sind Berlin und Venedig dran: In ersterer Stadt verfügt der preußische König 1799, dass die Nummerierung straßenweise zu erfolgen hat, in Venedig wiederum ist es 1801 die österreichische Besatzungsmacht, die die Häuser viertel- bzw. "sestiere"-weise nummerieren lässt, ein Prinzip, das sich in der Lagunenstadt bis heute gehalten hat.
Die Häuser werden transparent
Die Hausnummerierung ist ein Mittel zur Adressierung. Die Hausnummer weist jedem Haus eine eigene, unverwechselbare Stelle zu und soll den staatlichen Zugriff auf die darinnen lebenden Untertanen ermöglichen.

Denn aus Perspektive der Beamten des sich in der frühen Neuzeit formierenden Staates ist das Haus von der Außenwelt abgeschottet. Die Wände, die doch aus Perspektive der in ihnen lebenden Menschen so durchlässig sind, erscheinen als unüberwindbare Hindernisse für staatliche Begehrlichkeiten.

Das Haus ist ein monolithischer Block, der Reichtümer und Ressourcen in sich birgt, deren systematische Erschließung den Steuer- und Militärbehörden versperrt bleibt, solange es kein staatliches Adressierungssystem gibt.
Neue Ära der Familie?
Aus sozialhistorischer Perspektive wurde die Hausnummerierung als Begleiterscheinung der Auflösung des "ganzen Hauses" (Otto Brunner) beschrieben: Die Ablösung der Hausnamen durch die abstrakten Hausnummern wäre demnach "Ausdruck" eines Denkens, das das Haus als von den in ihm wohnenden Menschen getrennt betrachtet.

Die Hausnummer würde das Ende des "ganzen Hauses" einleiten und die Ära der Familie als neuem sozialhistorischen Gegenstand beginnen lassen.

Dieser Befund muss ergänzt, wenn nicht in seiner zeitlichen Abfolge umgekehrt werden: Demnach ist die Hausnummerierung als eine Vorbedingung für die im 19. Jahrhundert aufkommende Rede vom "ganzen Haus" zu betrachten, jener wirkungsmächtigen Fiktion, gemäß der vom Neolithikum bis ins 19. Jahrhundert hinein ein Sozialgebilde bestanden haben soll, das auf der lohnlosen Arbeit seiner Mitglieder beruhte und das durch ein herrschaftliches Moment, nämlich dem Züchtigungsrecht des Hausherrn über die Hausangehörigen gekennzeichnet gewesen sein soll.
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Fotos von historischen Hausnummern finden Sie in der von Anton Tantner im Internet eingerichteten "Galerie der Hausnummern".
->   "Galerie der Hausnummern"
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Ohne Hausnummer kein "ganzes Haus"
Dieses "ganze Haus" wird erst möglich, nachdem die Verwaltungspraxis des aufgeklärten "Absolutismus" die ohnehin verletzlichen Häuser aufbricht, indem sie ihnen eine Nummer verpasst.

Denn die Hausnummer macht das Haus sichtbar als Gegenstand einer im Namen des Staates ausgeübten Regierung; aus der Perspektive der AdeptInnen des "ganzen Hauses" beraubt sie damit die Hausväter ihrer uneingeschränkten Autorität, der Verlust des "ganzen Hauses" kann nunmehr beklagt werden.

Kurz: Ohne Hausnummer gibt es kein "ganzes Haus".

[18.4.05]
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Über den Autor
Anton Tantner, Dr. phil., studierte Geschichte sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien und dissertierte zum Thema "Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen - Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie" an der Universität Wien. Derzeit ist er IFK_Junior Fellow mit dem Projekt "Die Adressierung der Stadt" und Lektor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien.

Publikationen u.a.: Die Quellen der Konskription, in: Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkel-bauer (Hg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.-18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, Wien/München 2004, S. 196-204; Adressierungs-Fragmente: Konskriptionsnummern in Wien, in: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung 11/2003, S. 4-7; Vermischung vermeiden. Seelenkonskription, Hausnummerierung und Vermischung um 1770, in: Achim Landwehr (Hg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg 2002, S. 147-172.
->   Anton Tantner
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01.01.2010